Auf unsrer Reise vom Sinn zur Seele bedeutet es einen großen Fortschritt, wenn wir auch nur einigermaßen die wahre Bedeutung jener Worte verstehen, die die meisten von uns seit unsrer Kindheit so oft auf den Lippen gehabt haben: „Dein Wille geschehe.” Ehe wir in der Christlichen Wissenschaft lernten, „welches da sei der gute, wohlgefällige und vollkommene Gotteswille”, versuchten wir zwar in Zeiten der Trübsal, uns dem Willen Gottes zu fügen, meinten aber, der all-liebende Vater habe uns das Leiden nach Seinem unerforschlichen Ratschluß auferlegt, und es sei unsre Pflicht, dasselbe ohne alle Einwendung zu tragen. Und doch sagte uns der Verstand, daß selbst ein unvollkommener menschlicher Vater seine Kinder nicht mit Absicht peinigen wird.
Durch unser tägliches Studium der Christlichen Wissenschaft lernen wir Gott immer mehr als die Liebe erkennen, „bei welchem ist keine Veränderung noch Wechsel des Lichts und der Finsternis”, und es wird uns nach und nach offenbar, was eigentlich der Wille Gottes ist. Wir sehen ein, daß Er uns Frieden, Freude, Harmonie, Weisheit, Stärke, ja das schon hier und jetzt erreichbare Himmelreich zugedacht hat. Nachdem wir in einem gewissen Grade erkannt haben, was Gottes Wille ist, muß unser nächster Schritt darin bestehen, diese Erkenntnis im täglichen Leben praktisch zu verwerten, damit wir gegenüber dem Widerstreit des fleischlichen oder sterblichen Willens, den Paulus als „eine Feindschaft Wider Gott” bezeichnet, den Willen Gottes wiederspiegeln mögen.
Obschon wir sagen: „Dein Wille geschehe”, so halten wir doch gar oft recht fest an unsern eignen Meinungen und Wünschen, und reden uns dann ein, wir würden von dem Willen Gottes regiert. Erst durch bittere Erfahrungen werden wir dahin gebracht, gegen uns selbst ehrlich zu sein und in Demut unsre Selbstsucht, unsern Stolz und unsern Eigenwillen zuzugeben. Um unser Lebensproblem nach den in der Christlichen Wissenschaft angegebenen Vorschriften auszuarbeiten, müssen wir uns in Acht nehmen, daß wir nicht zu bestimmen suchen, wie sich unsre Zukunft gestalten soll. Wir demonstrieren sicherlich nicht das Prinzip der Christlichen Wissenschaft, wenn wir eine Handlungsweise, die unser menschlicher Wille geplant hat, für richtig erklären und dann auf das Gewünschte hinarbeiten. Wer so handelt, stellt seine Sache nicht Gott anheim; sein Gebet, „dein Wille geschehe”, ist nicht aufrichtig. Er bringt seine Arbeit von der Ebene des Metaphysischen auf die Ebene des Physischen herab; er glaubt, der begrenzte menschliche Sinn könne „ein recht Gericht” richten, könne richtig urteilen.
Angesichts unsrer Lebensprobleme, seien sie persönlicher, sozialer oder politischer Art, dürfen wir nicht den menschlichen Willen walten lassen. Unsre Arbeit besteht darin, jeden Tag deutlicher zu erkennen, daß Gott, das göttliche Gemüt, die einzige Macht, der einzige Denker ist; daß Sein Gesetz das einzige Gesetz ist; daß, wenn wir Ihm alles willig anvertrauen, uns der rechte Weg gezeigt werden wird und wir die Kraft erlangen werden, fest und sicher auf diesem Weg zu wandeln.
Um den Willen Gottes zu demonstrieren, müssen wir unsre materiellen Annahmen und Wünsche aufgeben, damit alles, was Gottes Gesetz widerstreitet, aus unserm Leben entfernt werde. Wir müssen sagen können: „Laß nicht das Fleisch, sondern den Geist in mir zum Ausdruck kommen” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 33). Es ist dies eine hohe Anforderung; sie umfaßt die Kreuzigung unsres menschlichen Begriffs vom Sein. Wenn wir aber ernstlich in dieser Richtung arbeiten, werden wir anfangen die Worte des Meisters zu verstehen: „Eure Traurigkeit soll in Freude verkehret werden ... und eure Freude soll niemand von euch nehmen.” Wenn wir angesichts schwieriger Probleme unsern eignen Willen aufgeben können, werden wir ein Gefühl des Friedens und des Geborgenseins erlangen, welches „höher ist denn alle Vernunft”. Alle Sorge, aller Kummer, alle Furcht, jedes Gefühl der eignen Verantwortlichkeit wird uns abgenommen sein, und wir werden, gleich einem kleinen Kinde, die Hand der Liebe fest erfassen, weil wir wissen, daß wir völlig geschützt sind, und daß alles Gute unser ist.
Auf Seite 1 von Wissenschaft und Gesundheit sagt Mrs. Eddy: „Verlangen ist Gebet”. Oft, wenn der Kampf mit dem menschlichen Willen fast überwältigend erscheint, kommt dieser Gedanke in das sturmbewegte menschliche Bewußtsein, „mit Heil unter [seinen] Flügeln”, denn wenn wir ernstlich danach verlangen, Gottes Willen zu tun, kann uns kein sogenanntes Gesetz des sterblichen Gemüts hindernd im Wege stehen. Wenn sich der Nebel verzogen hat, werden wir die Allmacht und Allgegenwart des Guten sowie die sich daraus ergebende Machtlosigkeit und Nichtsheit des Übels erkennen, vielleicht deutlicher, denn je zuvor. Die Welt kann uns die Kraft, die Freude und den Frieden, welchen uns diese Erkenntnis verleiht, weder geben noch nehmen.
Auf, auf, gib deinem Schmerze
Und Sorgen gute Nacht;
Laß fahren, was das Herze
Betrübt und traurig macht!
Bist du doch nicht Regente,
Der alles führen soll:
Gott sitzt im Regimente
Und führet alles wohl.
