Der Anfänger im Studium der Christlichen Wissenschaft schreitet bisweilen tastend und unsicher in der Richtung der göttlichen Liebe, und Zweifel erfüllt sein Gemüt. Wo und was ist Liebe? Seines gewohnten Begriffs von persönlicher Liebe beraubt, treibt er auf offener See, und sein müder Blick späht vergeblich nach dem Festland. Was soll er denn lieben? Die göttliche Liebe erscheint ihm als etwas Ungreifbares, sein Gemüt empfängt von ihr keinen unmittelbaren Eindruck. Man hat ihm erklärt, persönliche Liebe sei unwirklich, und der neuen Lehre nach soll er sich dem Prinzip zuwenden. Nun bringt aber der Begriff „Prinzip” seinem eben erst erweckten Bewußtsein keine Wärme, kein Liebeslicht. Er versteht das Wort so, wie es in der Mathematik angewandt wird und wie es für ihn in dem Walten ewiger Gerechtigkeit auf Erden zum Ausdruck kommt; daher erweckt es in ihm mehr Ehrfurcht als Liebe.
„Gemüt”, sagt Mrs. Eddy, muß „durch die Idee, die es ausdrückt, verstanden werden” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 467). Dieser Gedanke bietet uns eine Grundlage, auf der wir weiterbauen können. Wir erfahren, daß das eine Gemüt, das Prinzip, welches wir verstehen und lieben lernen müssen, gleichbedeutend ist mit göttlicher Liebe. Dieses Prinzip wird durch die Idee verstanden, durch die es zum Ausdruck kommt. Worin besteht nun aber diese Idee? In Wissenschaft und Gesundheit lesen wir weiter: „Die höchsten Ideen sind die Söhne und Töchter Gottes” (S. 503). Wir müssen unser Denken im Lichte der ewigen Wahrheit betrachten und uns die Frage vorlegen, was wir eigentlich an den Menschen lieben, für die wir uns interessieren. Ist es die körperliche Erscheinung? Ist es das Gesicht, die Gestalt? Die Antwort lautet entschieden „nein”. Den klarsten Beweis dafür liefert der Umstand, daß wir das betreffende Wesen selbst nach völliger Vernichtung eines materiellen Körpers weiterlieben würden. Nein, letzten Endes ist das Gute in andern der Gegenstand unsrer Liebe — die göttliche Idee, die durch den menschlichen Sinn zum Ausdruck kommt.
Die Erkenntnis dieser großen Wahrheit wirkt befreiend. Wir lassen uns nicht mehr von einem Gefühl persönlicher, selbstischer Liebe leiten, sondern von Liebe zum göttlichen Prinzip, wie dasselbe durch den Einzelnen unserm Bewußtsein kenntlich wird. Sodann ist es der geistige Sinn in uns, der jene Liebe erkennt, und in ihm findet sie einen Wiederhall. Wenn man das Gute in einer von Gottes Ideen erkennen kann, so kann man es auch in andern erkennen. Wir begegnen einem zweiten Menschen, der Gutes zum Ausdruck bringt, und dieses Gute können wir wiederum als mit dem universellen und göttlichen Guten eng verbunden ansehen. Somit betrachten wir es keineswegs als zur Persönlichkeit gehörig, deren Ausfluß es zu sein scheint. Dies bedeutet einen entschiedenen Fortschritt. Haben wir Gutes in zwei Fällen erkannt und als solches richtig bewertet, so wird sich uns bald noch mehr Gelegenheit hierzu bieten. Ja wir werden, nachdem der Anfang einmal gemacht ist, die göttliche Liebe in der ganzen Menschheit erkennen und sie erwidern. So erschließt sich uns allmählich das Verständnis des Prinzips, das Mrs. Eddy als die Grundlage alles dessen bezeichnet, was wirklich ist. Gleich einer lieblichen Blume im Sonnenschein entfaltet sich uns diese höhere Liebe.
Wir haben wohl alle schon in der Eisenbahn oder in der Straßenbahn bemerkt, wie ein kleines Kind mit herzgewinnendem Lächeln die Aufmerksamkeit aller Fahrgäste auf sich lenkte und allgemeines Interesse erregte. Es hielt uns vielleicht sein durchaus nicht appetitlich aussehendes Stück Kuchen hin, in der Überzeugung, daß wir es annehmen würden. Natürlich wollten wir das kleine Wesen nicht enttäuschen, und lehnten uns daher, von seinem Vertrauen gerührt, ohne Zögern vor und bissen von dem Kuchen ein Stückchen ab. Was bedeutet dieser Vorgang? Warum fügten wir uns so willig dem Wunsch des Kindes? Weil uns das Kind alle als Freunde betrachtete und sich benahm, als wüßte es, daß wir Liebe zu einander hätten, daß vollkommenes Einverständnis uns mit einander verbinde. Es bedurfte keines gegenseitigen Vorstellens; wir waren stets Freunde gewesen und werden es stets bleiben. Selbst wenn der größte Verbrecher eingestiegen wäre und sich neben das Kind gesetzt hätte, so hätte dasselbe gegenseitige Verständnis geherrscht. Kein Gefühl der Furcht würde sich geltend gemacht haben, und Liebe wäre der Liebe in gegenseitiger Brüderschaft entgegengekommen.
Das muß wohl Christus Jesus gemeint haben, als er sagte: „Wer nicht das Reich Gottes nimmt als ein Kind, der wird nicht hineinkommen.” Himmelreich bedeutet das Walten der Liebe. Liebe waltet für uns, sobald wir sie in ihrer Idee erkennen und ihr mit vertrauensvollem, kindlichem Sinn entgegenkommen.
Der Mensch kann nicht genug vom Menschen denken.—
.