Bevor wir ein klares Verständnis von der Natur des wahren Heilens erlangt haben, sind wir leicht geneigt, in unsern Bestrebungen ernstlich irre zu gehen. Wenn sich die Christliche Wissenschaft auf das Heilen von physischen Leiden beschränkte, dann hätte sie sich gewiß größere Popularität erworben. Wäre sie aber damit ihrem Namen gerecht geworden? Könnte sie in diesem Fall das Christus-Heilen genannt werden, auf das die Welt so lange gewartet hat und das sie so notwendig braucht? Mit der Frage: „Willst du gesund werden?” verkündigte Jesus seine Mission. Für ihn bedeutete die wahre Heilung völlige Wiederherstellung; Krankheit und Sünde waren für ihn untrennbar, und die Heilung des einen Übels bedingte die Zerstörung des andern. Kein Ausleger der schulmäßigen Theologie hat es bis jetzt gewagt, an dieser Auffassung von völliger Wiederherstellung zu rütteln. In den Schriften Mrs. Eddys ist dieser Punkt durchweg betont. Unsre Führerin bewies ihre Treue gegen das in vollem Glanze erschienene Christentum, wie es Jesus und seine Jünger lehrten und ausübten. Sie erkannte die Aufgabe, die sich Jesus stellte, und auch wir müssen sie erkennen.
Wenn Gesundheit bloß ein Zustand der Materie wäre, so hätten wir es nicht so nötig, fleißig und gewissenhaft zu forschen. Viele, die in der Christlichen Wissenschaft Hilfe suchen, würden sich mit physischer Erleichterung begnügen, selbst wenn ihnen nicht völlige Heilung zugesichert würde. Könnte eine solche Heilung geistig genannt werden? „In einem solchen Fall ... treibt eine Annahme die andre aus”, heißt es in Wissenschaft und Gesundheit, Seite 12, und in der Bibel lesen wir, es werde dann mit einem Menschen „ärger, denn es vorhin war”. Nein, wir müssen viel tiefer eindringen, wenn wir gründlich verstehen wollen, was die Christliche Wissenschaft ist und was sie für die Menschheit bedeutet. Kein halbes Erfassen, keine teilweise Anwendung dieser Lehre wird uns die Segnungen der Wahrheit erreichbar machen, denn „gänzlich getrennt von der Annahme und dem Traum des materiellen Lebens ist das göttliche Leben, welches geistiges Verständnis und das Bewußtsein von des Menschen Herrschaft über die ganze Erde offenbart” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 14). Dieses Bewußtsein geistiger Kraft und der Einheit des Seins mit Gott ist es, was die Menschheit erreichen muß.
Manche, die nach Heilung suchen, sie aber nicht sogleich finden, geraten in einen Zustand mentaler Verwirrung und forschen dann nach einer Ursache dieser Verzögerung. Aber oft ist gerade dieses Forschen der Grund, warum der Betreffende so langsam vorwärts kommt. Durch das Suchen nach materiellen Hindernissen kann er nur vom richtigen Wege abkommen, denn zwischen der Wahrheit des Seins und der Materie besteht keine Verbindung. Wer sich in solchen Zeiten an unser Lehrbuch wendet und sich die Mühe nimmt, es aufmerksam zu lesen, dem wird sich durch die klare geistige Auslegung der Heiligen Schrift, die dieses Buch enthält, bald der richtige Weg öffnen. Durch das Zergliedern der Gedankenzustände im Lichte der Wahrheit werden dann eine ganze Reihe von Übeln bloßgestellt, an denen sich der menschliche Sinn mit der Hartnäckigkeit eines Blutegels festhält. Das Wesen des sterblichen Menschen wird uns enthüllt, und erschreckt stehen wir vor seinem Bilde. Diese mentale Zergliederung bringt praktische Resultate.
Es seien hier nur einige Übel aufgezählt, die den Fortschritt auf dem Wege nach Befreiung von Sünde und Krankheit hemmen: Furcht, Unwissenheit, falsche Annahmen und Unglaube; mehr Neigung zum Irrtum als zur Wahrheit; die Annahme, daß Leben und Intelligenz in der Materie seien; die Unkenntnis Gottes und das Abgeneigtsein, Ihn als das göttliche Gemüt, den einzigen Schöpfer anzuerkennen; der Glaube, daß dem menschlichen Gemüt Heilkraft innewohne; Mangel an Vertrauen auf Gott; der Wunsch von Schmerzen befreit zu werden, um ungestört die Freuden der Sinne genießen zu können; das Hegen von kranken und sündigen Gedanken; das Nichtbefolgen der genauen Vorschriften der Christlichen Wissenschaft; Ungehorsam gegen die Eingebungen des Geistes der Wahrheit; die Scheu, sich offen und ehrlich zu der Wahrheit zu bekennen, wie die Christliche Wissenschaft sie offenbart. Dieser Liste könnte noch manches beigefügt werden, aber es ist hier wohl genug gesagt, um einen jeden von uns zu tiefem Denken anzuregen. Dabei müssen wir uns jedoch vergewissern, ob sich unser Denken auf richtigen Bahnen bewegt, denn sonst geraten wir leicht in einen mentalen Zustand, der dem Siege der Wahrheit hinderlich ist.
Obgleich es nun heute sowohl wie zu Jesu Zeiten wahr ist, daß „die Kraft des Herrn ... wirksam” ist „Kranke gesund zu machen” [Zürcher Bibel], so kommt doch heute wie damals diese Kraft in gewissem Sinne nicht immer zur Geltung. Jesus konnte in Nazareth nicht heilen. Ein äußerst strenggläubiger Autor erklärt: „Seine Kraft wurde unwirksam gemacht durch den Unglauben derer, die er andernfalls geheilt hätte.” Dieser Unglaube war eine absolute Verneinung der Fähigkeit Jesu, große Werke zu vollbringen. Der Ungläubige sieht und hört eben nur materiell. Erst muß der versteckte Irrtum, der in seinem Bewußtsein ist, enthüllt und zerstört werden; dann kann das Licht der Wahrheit das verdunkelte Denken durchdringen. Das Erwachen aus diesem falschen Bewußtsein ist unbedingt notwendig. Durch Demut, Reue und kindliches Vertrauen weicht der Unglaube dem Glauben, und der Glaube reift zum geistigen Verständnis heran. Erst wenn der Gedanke vergeistigt ist, sind die göttlichen Bedingungen erfüllt, die der Wahrheit zum völligen Siege verhelfen.
Wenn wir erkannt haben, daß wahre Heilung nur durch Erneuerung des Gemüts zustande kommen kann, dann eröffnet sich uns ein Ausblick auf die große Arbeit, die vor uns liegt. Ob es sich nun um Sünde oder Krankheit handelt: sie werden beide auf dieselbe Art geheilt, nämlich durch das göttliche Prinzip, von dem wir durch Mrs. Eddys Entdeckung einigermaßen ein Verständnis erlangt haben. In bezug auf physische Heilung sagt unsre Führerin auf Seite 230 von Wissenschaft und Gesundheit: „Wenn eine Krankheit verschwindet, meinen wir, wir seien geheilt, obwohl die Krankheit möglicherweise wiederkommen kann; doch ehe die Empfänglichkeit für Krankheit beseitigt ist, sind wir nicht völlig geheilt”. Die endgültige Demonstration, die wir zu machen haben, ist die Überwindung der Sünde. Erst wenn wir die Sünde überwunden haben, werden wir uns der vollkommenen geistigen Wiederspiegelung des göttlichen Gemüts bewußt sein, und, gleich Gott, nur sündlose Reinheit, Harmonie und Glückseligkeit kennen.
Kein Christlicher Wissenschafter, welche Stufe des Fortschritts er auch erreicht haben möge, darf untätig sein. Er muß klar erkennen, wo er mit seinem Verständnis angelangt ist und welche Arbeit noch vor ihm liegt, denn im Verhältnis zu seiner Erkenntnis ist er für seinen Fortschritt verantwortlich. Um im wahren Sinne des Wortes ein Jünger Jesu zu sein, muß er sich öfters selbst prüfen. Nur Gutes kann ihm daraus erwachsen. Der Scheinwerfer der Wahrheit durchleuchtet die verstecktesten Schlupfwinkel des Irrtums und bringt alles ans Licht, was unsern Fortschritt hindert. Eines der arglistigsten Übel ist die Vorstellung, daß uns die Sinne Genuß bereiten. Durch die Erkenntnis der Wahrheit lernen wir erkennen, daß uns die Sünde kein Glück und keinen Frieden bringt und daß wir, so lange wir an ihr festhalten, nicht wirklich geheilt werden können. Ein einziger unbereuter sündiger Gedanke vermag oft unsern Fortschritt zu hemmen und uns in Banden der Krankheit zu halten. Darum ist es so wichtig, daß wir der Erneuerung unsres Denkens entgegenstreben und unsern Wünschen höhere Ziele stecken. Der Prophet Habakuk sagt von Gott: „Deine Augen sind rein, daß du Übels nicht sehen magst.” Wenn wir dies glauben und Gott als das Wesen der Heiligkeit anerkennen, wenn wir glauben, daß Er überall gegenwärtig und immer bereit ist, unser Gebet zu erhören, warum sollten wir dann nicht voll und ganz auf Ihn vertrauen und Seinen Willen tun?
Diejenigen, die sich noch nicht entschlossen haben, den absoluten Forderungen der göttlichen Wahrheit gerecht zu werden, sollten einen genauen Vergleich anstellen zwischen dem, was sie aufgeben sollen, und dem, was sie durch Gehorsam gewinnen können. Sie sollten an die Tausende von Menschen denken, die durch die Christliche Wissenschaft geheilt worden sind und denen das Wenige, was sie geopfert haben, mehr als zehnfach zurückerstattet worden ist — an die große Zahl derer, die im Maße ihres Verständnisses der Wahrheit den Irrtum erfolgreich zu überwinden gelernt haben. Wir brauchen uns in bezug auf Gottes Absichten keine Sorgen zu machen. Alle Verheißungen werden erfüllt werden. Das Wort der Wahrheit ist unfehlbar und „läuft schnell”.
Möchten wir doch aus den Erfahrungen unsrer Führerin lernen und uns ein Beispiel nehmen an der Geduld und Ausdauer, die sie selbst in den dunkelsten Stunden ihres Lebens bewies. Nie verlor sie den Glauben an Gott, das unendliche Gute. Von ihr kann mit Recht gesagt werden, daß sie in „Stille und Sicherheit” stark war. Ihr Gehorsam war einer der Schlüssel, die ihr den Weg zum Himmelreich erschlossen, denn nur durch die Unterwerfung des eignen Willens kann das göttliche Licht der Wahrheit in das Bewußtsein eindringen und den Irrtum vertreiben.
In „Retrospection and Introspection“ (S. 31) wird uns über eine der ersten Wahrheiten, die Mrs. Eddy erkannte, in folgenden Worten berichtet: „Die ersten selbsttätigen Antriebe der Wahrheit und Liebe, die sich durch die Christliche Wissenschaft meinem neuerweckten Bewußtsein mitteilten, verbannten sofort und für immer den grundlegenden Irrtum, nämlich das Vertrauen auf materielle Dinge; denn dieses Vertrauen ist die versteckte Sünde, der unbekannte Feind — des Herzens ungezähmtes Sehnen, das die göttlichen Gebote bricht”. Ist hierin nicht ein großes Geheimnis enthüllt? Durch die Überwindung des Glaubens an das Materielle wird der Glaube an Gott die treibende Kraft unsres Lebens. Hindernisse müssen dann fallen, denn sie sind sterblicher Natur und haben daher weder Existenz noch Macht, sobald sie ihrer Stütze, des menschlichen Glaubens an ihre Wirklichkeit, beraubt sind.