Die Flut hatte den Höhepunkt erreicht, und Ebbe begann einzutreten. Weit draußen in der Bucht wurde ein dunkler Gegenstand sichtbar. Auf den ersten Blick schien er auf dem Wasser zu treiben, bei genauerem Hinsehen erwies er sich aber als ein Felsen, der über den Wasserspiegel hervorragte. Als die Flut weiter zurückging, wurde ein andres zackiges Felsstück in geringer Entfernung vom ersten sichtbar, dann noch eins, und so fort, bis sich ein breiter Felsenriff dem Blick darbot; und noch ehe völlige Ebbe eingetreten war, konnte man sehen, daß jeder felsenartige Vorsprung, der, vom Wasser umgeben, scheinbar gesondert bestanden hatte, sich auf einem darunterliegenden Felsenbett erhob, das sich vom Festland hinaus erstreckte, wo sich der Beobachter befand.
Diese Beobachtung veranschaulicht gewisse Erfahrungen, denen der Schüler der Christlichen Wissenschaft begegnet. Obgleich die Riffkette immer bestanden hatte, war von ihrem Vorhandensein nichts zu merken, solange sie unter Wasser stand; die weichende Flut ließ jedoch das zackige Felsengebilde kühn hervorragen. So verhält es sich mit der Wirklichkeit des geistigen oder absoluten Seins. Die sogenannten Wunder des ursprünglichen christlichen Zeitalters, wie sie vom Standpunkte des modernen religiösen Gedankens und im Lichte jahrhundertelanger materieller Annahmen und starren Dogmentums gesehen wurden, ragten als besondere Äußerungen einer übernatürlichen Ordnung hervor, scheinbar ohne einen gemeinsamen Boden mit der gegenwärtigen Erfahrung, ohne eigentliche Beziehung zu derselben. Im Laufe der Zeit trat jedoch im menschlichen Denken ein Rückschlag ein. Die Strömung, welche materialistische Anschauungen an erste Stelle erhoben hatte, wandte sich und ließ geistigere Gesichtspunkte hervortreten.
Dieses Zurücktreten materieller Elemente in der menschlichen Vorstellung erreichte zuletzt den Punkt, wo Mrs. Eddy, die über die Frage metaphysischer Ursächlichkeit tief nachgedacht hatte, die Entdeckung machte, daß alle wirklichen Phänomene des Seins eine gemeinsame Grundlage im göttlichen Prinzip haben. Mit der Erkenntnis dieser Tatsache kam die Überzeugung, daß die Bedingungen, die die mächtigen Werke des apostolischen Zeitalters möglich gemacht hatten, nicht ausnahmsweise bestanden, sondern stets vorhanden sind und auf Gesetzmäßigkeit beruhen. Diese Überzeugung, die sich überdies auf wiederholte Demonstration gründete, veranlaßte Mrs. Eddy später zu der bestimmten Erklärung: „Das Christentum Christi ist die Kette des wissenschaftlichen Seins, welches zu allen Zeiten wiedererscheint, sich in seiner unverkennbaren Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift behauptet und alle Zeiten in dem Plan Gottes vereinigt” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 301). In unserm Zeitalter wird die Wirklichkeit des Seins derart von der unruhig wogenden Flut materieller Vorstellungen, menschlicher Bestrebungen und Ansichten getrübt, daß viele sogar die Existenz einer solchen Wirklichkeit verneinen, während eine noch größere Anzahl Menschen sie wohl theoretisch anerkennen, sie aber als gänzlich jenseits des Bereichs tatsächlicher Erfahrung befindlich ansehen.
Die überwiegende religiöse Tendenz unsres Zeitalters, die gewöhnlich als wissenschaftlicher Theismus bestimmt wird, stellt den Zusammenfluß zweier Gedankenrichtungen dar, nämlich der sogenannten höheren Kritik, die im Grunde genommen, eine Reaktion gegen den Offenbarungsglauben ist, und der sogenannten Naturwissenschaft, die ihre Folgerungen auf materielle Beobachtung gründet. Dadurch, daß die Kirche sich sozusagen auf die Seite der Naturwissenschaft gestellt hat, ist sie in eine Zwangslage geraten. Die Folgerungen der sogenannten Naturwissenschaft haben einen ausgesprochen agnostischen Charakter, denn die Sinne befassen sich — das ist jedem Naturwissenschafter klar — mit Phänomenen, mit Wirkungen und Eindrücken, die durch ein unbekanntes Agens oder eine unerklärbare Ursache erzeugt werden. Das Wesen der Grundursache, das Reich des Absoluten, liegt vollständig außerhalb materieller Vorgänge und ist vom Standpunkt des materiellen Sinnes unerkennbar, rein hypothetischer Natur. Man kann, sagt die Naturwissenschaft, geistige Ursächlichkeit theoretisch gelten lassen; welcher Beweis läßt sich jedoch zur Unterstützung einer solchen Theorie erbringen?
Diese negative oder unbestimmte Sachlage steht im Gegensatz zu der Wahrheit, die Christus Jesus der Welt brachte. So sonderbar es erscheinen mag, so ist doch der Punkt, der vielleicht mehr als alle andern in den Aufzeichnungen der Lehren Jesu sowohl wie des Paulus hervorgehoben wird, den späteren Anhängern des christlichen Bekenntnisses völlig entgangen. Die Grundlage der Demonstrationen des Begründers des Christentums bestand, wie er wiederholt erklärte, in der Erkenntnis, daß Gott Geist ist und daß die geistige Wirksamkeit, die allein Sein Wesen zum Ausdruck bringt, dem Zeugnis der Sinne in allen wesentlichen Punkten zuwiderläuft. Er machte es klar, daß das Absolute und Geistige und das Relative und Materielle nirgends zusammentreffen; daß sie nicht einer Leiter gleichen, die mit einem Ende auf der Erde steht und mit der andern in den Himmel reicht; daß, so sehr sie auch in gewisser Hinsicht sich zu nähern scheinen, das Geistige stets geistig und das Materielle stets materiell bleibt, wie es im Gleichnis von dem Weizen und dem Unkraut erläutert wird. Er verwarf materielle Diagnose und alle Folgerungen in bezug auf den Menschen und das Weltall, die auf der Grundlage des Sinnenzeugnisses beruhten. Er war diesen Zuständen von vornherein überlegen vermöge eines erleuchteten Verständnisses von Gott als Geist und von den Tatsachen des Seins, wie Gott sie geistig verordnet. Diesen Gesichtspunkt erlangt man nie und nimmer, wenn man durch die Linse des materiellen Sinnes sieht. Wie Mrs. Eddy sagt: „Täuschung, Sünde, Krankheit und Tod entstehen aus dem falschen Zeugnis des materiellen Sinnes, der von einem vermeintlichen Standpunkt außerhalb der Brennweite des unendlichen Geistes aus ein umgekehrtes Bild des Gemüts und der Substanz darstellt, in welchem das Unterste zu oberst gekehrt ist” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 301).
Der Prophet von Nazareth wies nachdrücklich darauf hin, daß das Reich des absoluten Seins schon hier und jetzt für das menschliche Bewußtsein zugänglich, erkennbar und demonstrierbar ist. Nicht nur dies: er bewies auch durch seine Werke, daß die Kenntnis, die seine gelehrten Gegner durch das eingehende Studium relativer Phänomene erlangt hatten, im Grunde eitel Trug war, denn sie führte sie von den Tatsachen des Seins geradezu hinweg. Seine durch den geistigen Sinn erlangte Kenntnis brachte ihn in lebendige Beziehung zu dein Reich ursprünglicher Ursächlichkeit, zu dem Noumenon des Seins, dem göttlichen Prinzip, Geist, Gott, dem Vater. Er sprach und handelte „gewaltig”; seine Gewalt oder Macht gründete sich jedoch nicht auf die Kenntnis materieller Phänomene und ihre angeblichen Gesetze. Sein Leben ragte inmitten der Fluten materieller Annahmen empor, weil es absolutes Sein bekundete.
Das, was wir sehen, wird durch das Wie unsres Sehens bestimmt; und unsre Erfahrungen bekunden den Standpunkt, von dem aus wir arbeiten. Die Menschheit sehnt sich vor allem nach einer genauen Kenntnis des Absoluten; und doch haben die Menschen kaum je eine solche Kenntnis zu erlangen vermocht, eben weil sie mit relativen Mitteln nach derselben gestrebt haben. Kenntnis des Absoluten ist die einzige absolute Kenntnis, die einzige Kenntnis, die völlig selbstbestehend und selbstbestätigt ist. Die Röntgen-Strahlen durchleuchten Körper, die für die mittels eines photographischen Apparats registrierten Lichtstrahlen undurchdringlich sind. Der Meister rügte seine Jünger wiederholt wegen der mangelnden Betätigung ihres geistigen Wahrnehmungsvermögens — der Fähigkeit, die die Dinge des absoluten Seins in das Bereich der menschlichen Erfahrung bringt. Es war seine Kenntnis des Geistigen, die sich in den Zeichen oder sogenannten Wundern kundtat; sie bildeten die Aufgaben, die er in der Wissenschaft des Seins ausarbeitete. Auch bei Johannes, Petrus lind Paulus war es die Kenntnis des Geistigen, die sie befähigte, Dinge zu vollbringen, welche ihre Mitmenschen, deren Denken und Handeln sich auf materieller Grundlage bewegte, in Staunen versetzten. Desgleichen ist es beim Christlichen Wissenschafter die Kenntnis vom geistigen Gesetz, durch welche größere oder geringere Demonstrationen Zustandekommen und durch welche die Wirklichkeit des geistigen Seins bewiesen wird.
Wie in der Mathematik nimmt diese Kenntnis in dem Maße zu, wie die Wahrheit in der Erfahrung ausgearbeitet wird. Hierdurch erlangt man nicht nur ein Verständnis von dieser oder jener besonderen Phase der Wahrheit, sondern es erschließt sich einem auch die Erkenntnis, daß alle Phänomene des wirklichen Seins von einem gemeinsamen Prinzip ausgehen. Um mit Mrs. Eddy zu sprechen: „Wir müssen daran denken, daß Wahrheit demonstrierbar ist, wenn man sie verstanden hat, und daß das Gute nicht verstanden ist, bis es demonstriert ist” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 323).
