In einer Mittwochabend-Versammlung dankte eine Dame für die Erfahrung, die sie machen durfte, daß scheinbarer Stillstand in geistigem Wachstum für sie zum Anstoß zu höherem Fortschritt geworden sei. Dieser Gedanke begleitete mich mehrere Tage. Als ich dann zufällig in einem Botanikbuche blätterte, sah ich die Abbildung eines Kornhalmes in seinen verschiedenen Wachstumsstadien, und damit stand der obenerwähnte Gedanke auf einmal vollkommen klar vor mir. Der Kornhalm wurde mir zum Sinnbild des Wachstums in der Christlichen Wissenschaft.
Wenn der junge Halm zuerst dem Boden entsprießt, schießt er fröhlich in der lichtgrünen Farbe des Frühlings empor. Aber bald tritt in seinem Wachstum ein Stillstand ein. Er muß einen Knoten bilden. Dieser wird dann zum Stützpunkt eines weiteren hohlen Halmstückes, welches nach einer gewissen Zeit abermals Halt machen muß, um einen neuen Knoten zu bilden. Derselbe Prozeß wiederholt sich so lange, bis der Halm seine volle Länge erreicht hat, welche einen, ja oft sogar zwei Meter beträgt. Diese große Länge ist erforderlich, weil der Halm die nun ansetzende Ähre voll und ganz den Sonnenstrahlen aussetzen muß, damit sie zu der wertvollen Frucht ausreifen kann. Ohne die stützenden Knoten, welche jedesmal einen Stillstand vor weiterem Aufwachsen bedingen, würde es dem Halm nicht möglich sein, die im Reifen immer schwerer werdende Ähre zu tragen.
Ähnlich scheint es beim geistigen Wachstum zu sein. Frisch und leicht sind meist unsre ersten Schritte auf dem Wege der Christlichen Wissenschaft. Aber bald erheben sich die ersten Schwierigkeiten. Es geht doch nicht alles so glatt, wie wir zuerst dachten. Wir müssen erkennen lernen, daß die Christliche Wissenschaft ernste Anforderungen an uns stellt, die wir erfüllen müssen, wollen wir auf dem betretenen Weg weitergehen. Zuweilen überfällt uns ein Gefühl der Entmutigung, und es scheint, als kämen wir nicht mehr weiter, als höre jeder Fortschritt plötzlich auf. Aber dieser Gemütszustand wird zum Segen, wenn er zu ernster Einkehr in uns selbst führt. Die neuen Anforderungen sind so viel höher als die bisher an uns gestellten, daß der sterbliche Sinn sie nicht zu erfüllen, ja kaum zu verstehen vermag, und wir fühlen, daß wir der Hilfe bedürfen. Eignes Denken und Wollen erscheinen uns jetzt unzureichend zur Lösung unsrer Probleme; aber in dem Maße, wie uns dies klar wird, erwacht in uns die Demut, welche die erste Bedingung ist zum Fortschritt in der Christlichen Wissenschaft. Wie ein hilfloses Kind im Gefühl seiner Ohnmacht sich an die Hand der Eltern klammert, so strecken wir nun die Arme aus nach unserm Vater-Mutter Gott — und niemals umsonst; denn die göttliche Liebe erhört stets das wahre Gebet und reicht uns die rettende Hand, an der wir uns aufrichten in neuer Kraft zu weiterem Wachstum.
Aber leider verstehen wir Sterblichen nicht, diese Hand dauernd festzuhalten. Und so kommen bald neue Anfechtungen, die unsern Fortschritt zu hindern drohen. Da heißt es aufs neue, unsre eigne Hilflosigkeit einzusehen und uns bewußt zu werden, daß in Gott allein unsre Intelligenz und Stärke ist, und daß wir ganz und gar von Ihm abhängig sind. Alsdann wenden wir uns wiederum der göttlichen Liebe zu, die bereitsteht, uns zu stützen und zu stärken zu erneutem geistigem Aufstieg.
In der Regel wiederholen sich diese Kämpfe viele Male im Leben des einzelnen. Aber wenn sie auch den Fortschritt zeitweilig zu verbergen scheinen, hindern können sie ihn nicht; sie werden vielmehr zu Erziehungsmitteln; denn in dem Maße wie wir die eigne Ohnmacht und die der ganzen Menschheit erkennen, kommen wir zur Demut zurück, und erlangen die klare Erkenntnis, daß Gott allein unser Leben ist. Wenn wir diesen Punkt erreicht haben, wachsen wir stetig in der Erkenntnis Gottes, welche alle reinigt, fördert und stärkt, die bereit sind, die goldene Frucht der Demonstration hervorzubringen. Denn die Demonstration wächst allein aus der wahren Erkenntnis Gottes und der Beziehung des Menschen zu Ihm hervor und ist untrennbar von der Christlichen Wissenschaft, ebenso wie die reise Ähre untrennbar ist von dem normalen Wachstum des Halmes.
Vorstehende Erkenntnis kam mir wenige Tage, ehe ich sie dringend zur Lösung eines Problems brauchte, und ich war besonders dankbar dafür, weil sie mir ein neuer Beweis wurde von Gottes stets zugänglicher, unerschöpflicher Liebe, die jedem Bedürfnis abhilft, ehe es uns ins Bewußtsein kommt, wie unsre liebe, verehrte Führerin, Mrs. Eddy, es uns so klar und tröstlich gelehrt hat.
Tadeln ist leicht, deshalb versuchen sich so viele darin; mit Verstand loben ist schwer, darum tun es so wenige.
