Das bedauerliche, rasche Hinscheiden einer bekannten Berliner Persönlichkeit ist der Tagespresse zum Anlaß geworden, die Kgl. Staatsanwaltschaft auf die Behandlung der Betroffenen durch eine Vertreterin der Christlichen Wissenschaft im speziellen lind auf das Wesen des „Gesundbeterunfugs” im allgemeinen aufmerksam zu machen. Wie mir bekannt geworden ist, hat die Kgl. Staatsanwaltschaft auf Anregung des behandelnden Arztes die Untersuchung jenes Falles eingeleitet; es bleibt also abzuwarten, ob in dieser Untersuchung für die betreffende Vertreterin belastende und eine Bestrafung erheischende Momente sich ergeben, und es ist zweifellos unzulässig, zurzeit auf eine Diskussion des Einzelfalles irgendwie einzugehen. Wenn man nun die allgemeinere Frage des sogenannten Gesundbetens betrachtet, so ist es wohl historisch richtig, daß der Name „Gesundbeter” schlechthin von Gegnern der sich „Christliche Wissenschafter” nennenden Anhänger der von Mary Baker Eddy gegründeten Christian Science-Kirche gebraucht wird. Daß aber unter dem Namen „Gesundbeterei” ein ganzes Sammelsurium mehr oder weniger unlauterer Heilrichtungen noch außer der genannten Christlichen Wissenschaft von deren Gegnern verstanden wird, zeigt z. B. der Aufsah „Die Geschäftsgeheimnisse eines Gesundbeters” im „Berliner Tageblatt” vom 3. Januar 1914, wo unter diesem Titel die strafwürdige Tätigkeit eines Heilmagnetiseurs gegeißelt wird. Solche Erscheinungen mit der Christlichen Wissenschaft unter einem Namen zu befassen, kann nur schmerzliches Bedauern erregen.
Aber wenn man den Ausdruck Gesundbeter auf die Anhänger der Christlichen Wissenschaft beschränkt, so gibt die landläufige, damit verbundene Anschauung als einem gedankenlosen Herplappern von Gebeten „wie im finstern Mittelalter” eine schiefe, der Sache selbst ganz fremde und widersprechende Deutung. Daß die Gründerin der Christlichen Wissenschaft weit davon entfernt war, Gebet in diesem niederen Sinne zu verstehen, zeigen folgende, dem 1. Kapitel „Gebet” ihres Werkes Wissenschaft und Gesundheit entnommene Stellen (S. 2): „Was sind die Beweggründe zum Gebet? Beten wir, um selbst besser zu werden, oder um denen zu nützen, die uns hören; um den Unendlichen zu erleuchten, oder um von Menschen gehört zu werden? Nützt uns Beten etwas? Ja, das Verlangen, das da hungernd nach Gerechtigkeit ausgeht, wird von unserm Vater gesegnet und kehrt nicht leer zu uns zurück. Gott läßt sich durch den Odem des Lobes nicht bewegen, mehr zu tun, als er bereits getan hat, noch kann der Unendliche weniger tun als alles Gute spenden, da er unwandelbare Weisheit und Liebe ist.” Und: „Die bloße Gewohnheit, das göttliche Gemüt anzuflehen, wie man ein menschliches Wesen anfleht, nährt die Annahme, daß Gott menschlich umgrenzt sei — ein Irrtum, der das geistige Wachstum hindert. Gott ist Liebe. Können wir Ihn bitten, mehr zu sein? Gott ist Intelligenz. Können wir das unendliche Gemüt über irgend etwas belehren, was es nicht schon begreift? Meinen wir die Vollkommenheit ändern zu können?” Diese Stellen müssen dem Unbefangenen augenscheinlich vorführen, daß Gebet im Sinne der Christlichen Wissenschaft nichts mit „finsterem Mittelalter” zu tun hat, sondern einer hohen, über die jetzt herrschende kirchliche Auffassung hinausgehenden und fortschrittlichen Auffassung das Wort redet.
Und so muß man beim Studium der christlichen Wissenschaft bald erkennen, daß sie nicht nur eine Heilmethode, sondern in erster Linie eine Religion sein will. „Die Christliche Wissenschaft, eine Religion der Liebe”, von Virgil O. Strickler, und „Die Christliche Wissenschaft, eine Religion des Fortschritts”, von William D. McCrackan, sind die Titel zweier, in deutscher Übersetzung erschienener Vorträge von Lehrern der Christlichen Wissenschaft. Wenn daher ein Heilungsbedürftiger sich im Sinne der Christlichen Wissenschaft behandeln lassen will, so ist das eine Sache der Weltanschauung. Es ist gegenüber den jetzt herrschenden Richtungen der uralte Unterschied zwischen materieller und metaphysischer Welt anschauung, für oder gegen welche er sich wird entscheiden müssen. Und deshalb wird auch der Naturwissenschafter, der Arzt, solange er ein Materialist ist, die Bestrebungen eines Christlichen Wissenschafters nicht verstehen können. Es sind die verschiedenen Ausgangspunkte, die beide prinzipiell voneinander trennen, die verschiedenen Sprachen, die beide sprechen, in denen sie sich nicht verständigen können. Kein Mensch wird bestreiten, daß die medizinische Wissenschaft und ihre Vertreter mit Arzneimitteln und andern materiellen Verfahren Krankheitssymptome beseitigen können. Das geschieht alltäglich in Krankenhäusern, Kliniken, in der Privatpraxis nach immer neuen, der augenblicklichen Erkenntnis der Medizin angepaßten und dementsprechend wechselnden Methoden. Aber während der Arzt in der Hauptsache Krankheit aller Art materiell ansieht und auf dieser Basis behandelt, sticht der Christliche Wissenschafter die Ursache des Auftretens von Krankheitssymptomen im Bewußtsein, auf geistiger Basis, verursacht durch Fehler und Irrtümer aller Art — Sünde, Furcht, Haß, Unehrlichkeit, Neid, Eigensinn n. a.— und ist bestrebt, durch mentale Behandlung diese Irrtümer im Bewußtsein zu berichtigen. Dies kann nach seiner Auffassung nur im Verhältnis zu seiner Erkenntnisstufe geschehen.
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