In der Bibel lesen wir, daß Moses einstmals den Mut verlor. Trotz der unzähligen Beweise von Gottes Fürsorge, die ihm und den Kindern Israel zuteil geworden waren, ließ er sich angesichts der scheinbar überwältigenden Umstände so entmutigen, daß er sich nach dem Tode sehnte. Die Kinder Israel klagten; sie waren des Mannas müde und sehnten sich nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurück. Unzufriedenheit hatte sich ihrer bemächtigt, und sie schrien: „Nun aber ist unsre Seele matt; denn unsre Augen sehen nichts denn das Man”. Und Moses hörte das Volk weinen „unter ihren Geschlechtern, einen jeglichen in seiner Hütte Tür.”
Es war nicht das erste Mal, daß die Kinder Israel murrten. Immer und immer wieder machten sie ihrem treuen Führer bittere Vorwürfe darüber, daß er sie von ihren ägyptischen Unterdrückern weg in die Wüste geführt hatte, nur um sie da, wie sie behaupteten, umkommen zu lassen. Und immer und immer wieder waren diese Klagen in Freudengesänge verwandelt worden, denn jedesmal wurde ihren Bedürfnissen in wunderbarer Weise abgeholfen. Aber dieses Mal schienen die Klagelaute dem Moses ins Bewußtsein zu dringen und ihn so zu entmutigen, daß er ausrief: „Woher soll ich Fleisch nehmen, daß ich alle diesem Volk gebe? ... Willst du also mit mir tun, so erwürge mich lieber, ... daß ich nicht mein Unglück so sehen müsse”.
Einer unsrer Lektoren hat die Entmutigung ganz richtig als das nützlichste Werkzeug des Teufels bezeichnet, mit dem er sich Einlaß in das Gemüt des Menschen verschaffen kann, nachdem alle andern Mittel fehlgeschlagen haben. Ein entmutigter Mensch ist allen klaren Denkens unfähig. Derweilen er in hilfloser Untätigkeit stillsteht, öffnet er dem Feinde die Tür zu seinem durch Unzufriedenheit widerstandslos gemachten Bewußtsein. So war es mit Moses, und so ist es auch mit vielen von uns. Wer sich die Mühe nehmen will, die Erfahrung Moses, wie sie uns im elften Kapitel des dritten Buchs Mose erzählt wird, einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen, der wird gewiß zur Ausarbeitung seiner eignen Probleme neue Kraft und Erleuchtung finden. Er wird einsehen, daß der Gedankenznstand, unter dem er leidet, im Grunde derselben Art ist, wie der des Moses, denn wenn auch seitdem Jahrtausende vergangen sind, so hat sich der sterbliche Sinn doch sehr wenig verändert.
Bei näherer Betrachtung ist zu ersehen, daß Moses unter dem Druck eines übertriebenen Verantwortlichkeitsgefühls stand. Dies ist fast immer bei einem Menschen der Fall, der den Mut verloren hat. Moses hatte ganz vergessen, daß nicht er es war, der zu kämpfen hatte; daß seine einzige Pflicht darin bestand, auf Gott zu vertrauen. „Woher soll ich Fleisch nehmen, daß ich alle diesen, Volk gebe?” fragte er. „Sie weinen vor mir und sprechen: Gib uns Fleisch, daß wir essen”. Kann es uns da wundern, daß Moses keinen Ausweg sah? Statt sich au Gott, den nieversagenden Quell alles Guten zu wenden, nahm er die Verantwortung auf sich selbst, und es ist daher ganz begreiflich, daß er in die Klage ausbrach: „Ich vermag alles das Volk nicht allein zu ertragen; denn es ist mir zu schwer”.
In eben dieser Weise mühen sich heutzutage viele Sterbliche ab. Sie glauben die Bürde mit ihrer beschränkten menschlichen Kraft tragen zu müssen, und brechen dann darüber in Klagen aus. Früher oder später müssen sie jedoch zu der Einsicht kommen, daß die Christus-Idee und nicht der menschliche Sinn die Herrschaft besitzt. Die Bürde ist nicht unser, sondern Gottes, und wir brauchen sie nicht länger zu tragen, als bis wir diese einfache und doch so wunderbare Wahrheit erkannt haben. Hatte Moses die Kinder Israel vermöge seiner eignen Weisheit aus der Knechtschaft des Pharao geführt? War es seine Kraft, die das Rote Meer teilte und das Volk trocken durchziehen ließ? Hatte er bewirkt, daß der Fels Wasser ausströmte? Hatte er das Volk mit Manna gespeist oder die Wolkensäule bei Tag und die Feuersäule bei Nacht zum Wegweiser bestimmt? Kurz, war es Moses, der die Israeliten ins gelobte Land führte, oder war es Gott?
Selbstverständlich gibt es eine Verantwortlichkeit, der wir uns nicht entziehen können. Sie besteht aber nur darin, uns so nahe an Gott zu halten, daß wir uns Seiner Führung stets bewußt sind. Dadurch wird es uns möglich, unser Vertrauen über alle Zweifel zu erheben und zu erkennen, daß „Liebe inspiriert, erleuchtet, bestimmt und führt” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 454), auf allen Wegen und unter allen Umständen. Unser Unterscheidungsvermögen für das, was gut und was böse ist, wird geschärft werden, so daß unser Leben immer mehr von Disharmonie und Mißerfolg frei wird. Gottes Weisheit und Führung genügt in allen Lebenslagen; unsre einzige Aufgabe ist, auf Seine Stimme zu hören und zu gehorchen.
Wenn wir der Entmutigung Gewalt über uns geben, gewähren wir zugleich einem andern Zerstörer des Glücks und des Friedens Einlaß, nämlich der Selbst Verdammung. Ja, so eng ist der Feind mit der Entmutigung verbunden daß beide meist Hand in Hand an uns herantreten. Ein entmutigter Mensch verbringt viel kostbare Zeit mit Vergleichen zwischen sich selbst und seinem Nächsten, wobei er sich selbst als der weniger Wertvolle von beiden vorkommt. Alte Fehler steigen riesengroß vor ihm auf, und er verdammt sich selber, weil ihm nicht alles gelungen ist, was er sich vorgenommen hatte. Natürlich regt sich bei solchen Vergleichen in ihm der Neid gegen seinen Nächsten, wenn dieser scheinbar mehr erreicht hat als er. Shakespeare bewies tiefe Weisheit durch sein Wort: „Jeder Vergleich hinkt.” Warum sollten wir uns überhaupt mit andern vergleichen, da doch unsre Pflicht nur darin besteht, dem Vorbilde des großen Meisters gemäß nach Vollkommenheit zu streben!
Selbst Jesus verdammte niemand; er sagte zu der Sünderin nichts weiter als: „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.” Die Selbstverdammung hat noch nie einen Menschen vorwärts gebracht. Im Gegenteil, sie hindert ihn in all seinem Tun und wurzelt ihn fest an der Stelle, wo die Saat vergangener Fehler rings um ihn her als ein hartnäckiges Unkraut sprießt. Er muß seine Fehler bereuen und berichtigen, den ernsten Vorsatz fassen, sie nicht zu wiederholen, und sie dann vergessen. Tut er dies, so wird er durch die Kraft des erlösenden Wahrheitsgedankens sich aufrichten können. Die Gelegenheit, besser zu werden, fehlt uns nie; laßt uns Gott dafür danken.
Dankbarkeit gegen Gott ist eines der wirksamsten Mittel zur Vernichtung der Entmutigung. Wenn ein Mensch, der den Wunsch hat besser zu werden, sich dankbar der Wohltaten erinnert, die ihm schon zuteil geworden sind, dann wird die Entmutigung sich nicht einmal die Mühe nehmen, die Stufen zu seiner mentalen Behausung zu ersteigen und zum Fenster hineinzusehen. Wir alle haben so unendlich viel, für das wir dankbar sein sollten. In den Vereinigten Staaten ist ein Tag des Jahres festgesetzt, an welchem sich das Volk in den Kirchen versammelt, um dem Geber aller guten Gaben zu danken. Obschon für den Christlichen Wissenschafter jeder Tag ein Danksagungstag ist, so schließt er sich dennoch gerne dieser Feier an, um im Verein mit seinem Nächsten die stets gegenwärtige Fürsorge Gottes zu preisen, die uns aus der Finsternis materieller Annahmen in das Land des Lichts und des Friedens führt. Moses hätte sich sicherlich niemals den Tod gewünscht, wenn er sich stets der vierzig Tage und vierzig Nächte auf dem Berge Sinai erinnert hätte, wo ihn die Herrlichkeit Gottes so durchleuchtete, daß er sein Angesicht bedecken mußte, als er zu den Israeliten zurückkam. Er dachte damals nicht an sich selbst, denn es wird uns erzählt, daß er nicht wußte, „das die Haut seines Angesichts glänzte”.
Auch heute gibt es viele, die wie Moses sozusagen vierzig Tage und vierzig Nächte auf dem Berge gewesen sind. Auch ihnen hat sich die Herrlichkeit Gottes durch wunderbare Beweise Seiner Macht geoffenbart, und eine lange Zeit hernach war die Erleuchtung noch auf ihrem Angesicht zu sehen — ein Glanz der überirdisch schien. Es war ihnen zurzeit, als ob sie diese Erfahrungen nie vergessen könnten. Dies ist für jedes betrübte Herz Grund genug zu neuem Mut. Laßt uns an unsre Segnungen denken, von denen die größte das tiefere Erkennen Gottes und Seiner wunderbaren, allumfassenden Liebe ist. Wir wollen uns freuen, daß wir etwas zu geben haben, nämlich diese einfache erlösende Wahrheit, die unser eignes Leben so bereichert hat. Laßt uns einstimmen in das Ernte- und Dankeslied, wenn wir auch noch nicht für alle Probleme die Lösung gefunden haben.
Wenn unsre Gedanken dem nachsinnen, „was ehrbar, was gerecht, was keusch. Was lieblich, was wohllautet”, dann können wir unsre Augen ebenso freudig und leicht erheben wie eine Blume, die ihr Angesicht der Sonne zuwendet. Gott ist gut und ist stets gut gewesen; warum sollten wir ihm nicht zu jeder Stunde vertrauen können? Indem wir uns Seiner immerwährenden Liebe und Güte erinnern, wird jede Bürde, die die Entmutigung uns aufladen möchte, von uns genommen, und wir fühlen uns froh und frei.
