Der Fortschritt, den die Welt gemacht hat, steht im Verhältnis zu ihrem Erfolg im Erforschen der Wahrheit. Die Menschen haben stets nach dem Warum und Weshalb des Seins gefragt, und die Philosophen aller Zeiten haben sich mit diesen Fragen beschäftigt. Dieselben bilden jetzt den Ansporn zu jeder Forschung auf wissenschaftlichem Gebiet und liefern der ganzen Menschheit einen nieversagenden Antrieb zu einer mentalen Tätigkeit, deren Ziel nicht fliehende Schatten, eitle Zeitlichkeiten sind, sondern das Ewige mit seinem tröstenden, beruhigenden und wohltuenden Einfluß.
Die Frage des Pilatus: „Was ist Wahrheit?” ist verschieden beurteilt worden. Nach Ansicht Lord Bacons warf Pilatus die Frage nur so hin, ohne eine Antwort zu erwarten. Zutreffender wäre es vielleicht, Pilatus als einen Menschen seiner Zeit (oder, wenn man will, auch unsrer Zeit) zu betrachten, als einen intelligenten Menschen, der Beweismittel zu wägen verstand und dadurch zu richtigen Schlüssen gelangen konnte, dem aber die Kraft fehlte, diesen Schlüssen entsprechend zu handeln, weil er des Vertrauens auf das göttliche Prinzip entbehrte. Als er bei dem Scheinverhör von den widerstreitenden Elementen der Leidenschaft bedrängt wurde und nach einem Ausweg suchte, bewies er seine unsichere, auf Triebsand gegründete Stellung. Daher sind seine halb sarkastischen, halb skeptischen Worte: „Was ist Wahrheit?” durchaus nicht überraschend.
Diese schwerwiegende Frage aufzuwerfen, ohne den Wunsch, ihr nachzugehen, ist ein müßig Ding. Hatte nicht der demütige Nazarener, den der Römer für unschuldig erklärte, verkündet: „Die Worte, die Ich rede, die sind Geist und sind Leben”? Hatte er nicht während der drei Jahre seiner Amtstätigkeit die Wahrheit seines Evangeliums demonstriert? Hatte er nicht durch seine Erkenntnis der Wahrheit Kranke geheilt, Sünder bekehrt, ja die Toten erweckt? Es mag ja sein, daß Pilatus nicht in der Lage war, die nötigen Beweise aus der Menge der Geheilten zu sammeln; doch will es uns eher scheinen, als habe er, obschon ein Römer, den Standpunkt der Hohenpriester und ihrer Anhänger eingenommen, welche erklärten: „Wir wissen, daß Gott mit Mose geredet hat; von wannen aber dieser ist, wissen wir nicht.” Auf Vorurteil, ein Kind der Unwissenheit, oder auf noch Schlimmeres muß man bei fortschrittlichem Streben stets gefaßt sein. Gleichviel, ob dieses Streben von Gemeinden oder von Völkern ausgeht, so stößt es, da es dem Urteil des einzelnen unterworfen ist, auf die Trägheit des sterblichen Gemüts, auf die zersetzenden und zerstörenden Elemente der Unwissenheit, der Furcht und der Selbstsucht.
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