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Wahrheit, Wirklichkeit, das Absolute

Aus der Mai 1914-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Der Fortschritt, den die Welt gemacht hat, steht im Verhältnis zu ihrem Erfolg im Erforschen der Wahrheit. Die Menschen haben stets nach dem Warum und Weshalb des Seins gefragt, und die Philosophen aller Zeiten haben sich mit diesen Fragen beschäftigt. Dieselben bilden jetzt den Ansporn zu jeder Forschung auf wissenschaftlichem Gebiet und liefern der ganzen Menschheit einen nieversagenden Antrieb zu einer mentalen Tätigkeit, deren Ziel nicht fliehende Schatten, eitle Zeitlichkeiten sind, sondern das Ewige mit seinem tröstenden, beruhigenden und wohltuenden Einfluß.

Die Frage des Pilatus: „Was ist Wahrheit?” ist verschieden beurteilt worden. Nach Ansicht Lord Bacons warf Pilatus die Frage nur so hin, ohne eine Antwort zu erwarten. Zutreffender wäre es vielleicht, Pilatus als einen Menschen seiner Zeit (oder, wenn man will, auch unsrer Zeit) zu betrachten, als einen intelligenten Menschen, der Beweismittel zu wägen verstand und dadurch zu richtigen Schlüssen gelangen konnte, dem aber die Kraft fehlte, diesen Schlüssen entsprechend zu handeln, weil er des Vertrauens auf das göttliche Prinzip entbehrte. Als er bei dem Scheinverhör von den widerstreitenden Elementen der Leidenschaft bedrängt wurde und nach einem Ausweg suchte, bewies er seine unsichere, auf Triebsand gegründete Stellung. Daher sind seine halb sarkastischen, halb skeptischen Worte: „Was ist Wahrheit?” durchaus nicht überraschend.

Diese schwerwiegende Frage aufzuwerfen, ohne den Wunsch, ihr nachzugehen, ist ein müßig Ding. Hatte nicht der demütige Nazarener, den der Römer für unschuldig erklärte, verkündet: „Die Worte, die Ich rede, die sind Geist und sind Leben”? Hatte er nicht während der drei Jahre seiner Amtstätigkeit die Wahrheit seines Evangeliums demonstriert? Hatte er nicht durch seine Erkenntnis der Wahrheit Kranke geheilt, Sünder bekehrt, ja die Toten erweckt? Es mag ja sein, daß Pilatus nicht in der Lage war, die nötigen Beweise aus der Menge der Geheilten zu sammeln; doch will es uns eher scheinen, als habe er, obschon ein Römer, den Standpunkt der Hohenpriester und ihrer Anhänger eingenommen, welche erklärten: „Wir wissen, daß Gott mit Mose geredet hat; von wannen aber dieser ist, wissen wir nicht.” Auf Vorurteil, ein Kind der Unwissenheit, oder auf noch Schlimmeres muß man bei fortschrittlichem Streben stets gefaßt sein. Gleichviel, ob dieses Streben von Gemeinden oder von Völkern ausgeht, so stößt es, da es dem Urteil des einzelnen unterworfen ist, auf die Trägheit des sterblichen Gemüts, auf die zersetzenden und zerstörenden Elemente der Unwissenheit, der Furcht und der Selbstsucht.

Was ist Wahrheit? Liegt sie im Bereich der Erkenntnis? Und wie können wir wissen, ob wir sie erfaßt haben? Mit Rücksicht auf die erste Frage wollen wir zunächst zwischen sogenannter absoluter Wahrheit und relativer Wahrheit unterscheiden. Das Wörterbuch gibt für Wahrheit die Bestimmung: „Übereinstimmung mit der Wirklichkeit”, und für absolut: „Das, was in oder durch sich selbst besteht, ohne notwendige Beziehung zu einem andern Wesen.” Wenn nun Wahrheit „Übereinstimmung mit der Wirklichkeit” ist, dann ist sie wesensgleich mit dem Wirklichen, d. h. Wahrheit und Wirklichkeit sind ein und dasselbe. Und wenn das Absolute an sich und durch sich selbst besteht, dann muß es ebenfalls mit Wirklichkeit wesensgleich sein. So sind also Wahrheit, Wirklichkeit und das Absolute ein und dasselbe, lind in diesem Sinne werden diese Ausdrücke in der Christlichen Wissenschaft gebraucht. Dasselbe Wörterbuch bestimmt relativ als „nicht absolut”. Wenn also das Absolute identisch ist mit Wirklichkeit, dann ist relative Wahrheit nicht identisch mit Wirklichkeit, ja sie existiert überhaupt nicht im eigentlichen Sinne. Dies ist in der Tat ein Schluß von weittragender Bedeutung.

Da die Wahrheit identisch ist mit Wirklichkeit, und Wirklichkeit wiederum auf Grund ihres Wesens ewig ist, stellt sich die Frage so dar: Liegt die ewige Wirklichkeit im Bereich der Erkenntnis? Mit andern Worten: Kann man Gott erkennen? In der Vorrede zu Wissenschaft und Gesundheit (S. vii) sagt Mrs. Eddy: „Unabhängig von Glaubenslehren und altehrwürdigen Systemen pocht die Wahrheit an die Pforte der Menschheit.” Diese Worte bringen das Verhältnis der Christlichen Wissenschaft zu allen Problemen zum Ausdruck; sie offenbaren wiederum das Wesen der göttlichen Wahrheit. Fortschritt bedingt ein Sich-Lossagen von den vielen „Glaubenslehren und altehrwürdigen Systemen”, von vorgefaßten Meinungen und Anschauungen aller Art. Dies sollte jedoch nicht als etwas Unangenehmes empfunden werden, da ja die „köstliche Perle” der Lohn ist. „Den Demütigen gibt er Gnade.”

Auf Seite 465 von Wissenschaft und Gesundheit bestimmt Mrs. Eddy das Wesen Gottes wie folgt: „Gott ist unkörperliches, göttliches, allerhabenes, unendliches Gemüt, Geist, Seele, Prinzip, Leben, Wahrheit und Liebe.” Hier wird Gott in jeder dieser Anschauungsarten mit Wirklichkeit identifiziert. Kann demnach Gott erkannt werden? Gewiß! Wir kennen Ihn in dem Maße unsrer Erkenntnis dieser Erscheinungsarten des göttlichen Gemüts. In dem Maße, wie wir uns mit ihnen identifizieren, spiegeln wir Ihn wieder. Man denke sich z. B. Gott als unendliche Liebe. Vermögen wir Liebe zu kennen? Ja, genau insoweit als wir jene Art der Liebe hegen, die Jesus forderte. Die Christliche Wissenschaft erklärt, daß eine jede Eigenschaft Gottes unendlich ist, sei es Seine Intelligenz, Gegenwart oder Kraft. Demnach besteht überhaupt nichts außerhalb des göttlichen Seins. Das Erfassen dieser Wahrheiten führt zum geistigen Verständnis, das eine von jedweder Unwirklichkeit befreiende Kraft mit sich bringt.

Es entstehen den Menschen bei Beginn ihres Studiums der Christlichen Wissenschaft oft große Schwierigkeiten wegen ihres mangelhaften Begriffs von der Vielfältigkeit oder Unendlichkeit der Wahrheit. Sie möchten den Ozean ausschöpfen, während doch ihr gegenwärtiges Aufnahmevermögen dem eines winzigen Bechers entspricht. Statt dessen sollten sie in Demut so viel von der Wirklichkeit des Seins schöpfen, als in ihren Becher geht. Dann werden die wunderbaren Möglichkeiten in dieser Hinsicht zutagetreten, denn die Empfänglichkeit des Menschen wird nicht durch materielle Grenzen beschränkt. Die Wahrheit, die geistige Idee bedarf keines Raumes zu ihrem Aufenthalt.

Nun wird vielleicht dieser oder jener Leser sagen: „Das mag alles seine Richtigkeit haben in bezug auf die ethische und geistige Seite des Lebens; wie verhält es sich aber mit unsrer Kenntnis von der Materie, von materiellem Gesetz und materiellem Leben? Sind alle Entdeckungen, namentlich die der neuesten Zeit, keine Entdeckungen, oder sind sie nur Bruchstücke der Wirklichkeit?” Die Christliche Wissenschaft bietet die einzig mögliche Antwort, und diese muß der von ihr vertretenen Anschauung von Gott zufolge lauten, daß es keine Materie, kein materielles Gesetz und kein materielles Leben gibt. Das unendliche Gemüt kann nicht der Erzeuger des ihm Unähnlichen sein.

Die absolute Behauptung, daß die Materie sowie alle sogenannten materiellen Phänomene unwirklich sind, trugen Mrs. Eddy den Spott einer im Traum befangenen Welt ein. Seitdem sie dieser gewaltigen Wahrheit Ausdruck gab, ist aber die Menschheit einigermaßen aus ihrem Schlafzustande erwacht, und jetzt folgt die Menge (wenn auch nicht mit vollem Verständnis) sogar weniger bedeutenden Wissenschaftern in der Erkenntnis, daß die Materie etwas rein Hypothetisches ist. Die Atom-Theorie von John Dalton führte den Materialisten zum Atom zurück, zu dem Partikel, der keiner Teilbarkeit mehr fähig war. Dieses Atom war nur ein in der Vorstellung bestehendes, von einem Theoretiker erfundenes, zur Erklärung des Phänomenalen angewandtes Ding.

In unsern Tagen hat jedoch das Atom seine ursprüngliche Einfachheit gänzlich verloren. Statt einer mit wunderbaren Kräften ausgestatteten Einheit ist es zu einem höchst komplizierten Ding geworden, zu einem kleinen Weltall für sich, in dem die zahlreichen Jonen, die die elektrischen Ladungen enthalten, harmonische, sich stets bewegende und ungeheure Kräfte in sich schließende Sphären sind, die einen zusammenhaltenden Einfluß und eine Wirkung oder Gegenwirkung auf gleichartige Sphären ausüben, oder die unter Umständen mit explosionsartiger Kraft auseinanderfliegen. Weiter wird die Ansicht vertreten, daß das Jon wahrscheinlich der in einem Zustand der Spannung befindliche Äther sei. Und was ist der Äther? Hier hört selbst das Spekulieren auf. Die ganze Kette von Folgerungen hängt an einer Theorie oder vielmehr an einer Kette von Theorien. Eines jedoch tritt immer klarer zutage: denkende Menschen kommen, wenn auch langsam, zu der Erkenntnis, daß das Sinnenzeugnis — die Kenntnis, die wir durch das Auge, das Ohr oder das Gefühl erhalten — uns über die grundlegenden Dinge des Seins durchaus keinen Aufschluß geben können. Mit andern Worten, das Sinnenzeugnis sagt uns nichts über das Absolute, über Wirklichkeit oder Wahrheit. Lobenswert ist an dem Bestreben des materiellen Wissenschafters seine ehrliche Absicht. Sein ernstes Verlangen, die Wahrheit zu erkennen, bildet den Antrieb zu seinem fortgesetzten Streben.

Gemüt ist allgegenwärtig. Da es nur einen Gott gibt, so gibt es nur ein Gemüt. Solange die Menschheit an viele Gemüter glaubt und dieselben auf den Raum verteilt, muß sie fortfahren, die zwischen ihnen liegende Trennung mit ihren materiellen Mitteln und Wegen aufzuheben, wie z. B. durch Flugmaschinen oder drahtlose Telegraphie. Je verfeinerter ihre Theorien über die Materie werden, desto schneller werden diese Fahrzeuge fliegen und desto größer wird der Raum sein, den die telegraphische Botschaft durcheilt. Es ist jedoch keine Zeit erforderlich, um auf mentalem Wege von einem Planeten zum andern zu reisen. In der Allgegenwart schwindet der Begriff von Raum.

„Christus ist die ideale Wahrheit, ... Christus [ist] die göttliche Idee” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 473). Aus der Bibel ersehen wir, daß die Wahrheit in allen Zeitabschnitten der Religionsgeschichte erkannt worden ist. Sie mag nur als schwacher Lichtstrahl wahrgenommen worden sein, der bisweilen durchbrach, um den dunkeln Weg zu erleuchten, oder als leuchtender Schein, wie im Fall Abrahams, wodurch ihm ein Glaube gegeben wurde, der ihn während seiner langen Pilgerschaft auf Erden auf rechter Bahn führte. Auf dem Berge Sinai bekundete sie sich durch die Offenbarung des moralischen Gesetzes als die Unbeugsamkeit des Prinzips, das die Beziehung vom Menschen zu Gott und vom Menschen zum Menschen festsetzt. Das Verständnis der zehn Gebote nach christlich-wissenschaftlicher Auslegung macht dieselben zu Brunnen lebendigen Wassers.

Jahrhunderte hindurch hat ein Prophet nach dem andern auf den Christus, die göttliche Idee, auf die mustergültige Wahrheit hingewiesen und zuweilen auch ihren vollkommenen Offenbarer verkündet. Und in den Lehren und Demonstrationen Christi Jesu finden wir die volle Offenbarung der Wahrheit, die klare Erkenntnis der Wirklichkeit, das unerschütterliche Vertrauen auf das Absolute, die Identifizierung von Gesetz mit Intelligenz, mit der Intelligenz, die Liebe ist. In den Schriften des Paulus ist immer wieder von der Wahrheit im Sinne des offenbarten Willens Gottes die Rede; und Johannes braucht das Wort zur Bezeichnung einer absoluten, göttlichen Wirklichkeit im Gegensatz zum Falschen oder nur Scheinbaren.

Im Lichte der Christlichen Wissenschaft wird es klar, daß Jesu ungetrübte Erkenntnis von der Allheit Gottes als Gemüt, als Leben, Wahrheit und Liebe, ein erhabenes Bewußtsein bildete, von dem die Welt nichts ahnte. Jesus war schon jenseits des Gesichtskreises der Sterblichen getreten, als der Verfasser des Ebräerbriefes (im elften Kapitel) mit eindringlichen Worten auf die Macht des Christus-Bewußtseins hinwies, das vor Zeiten dem israelitischen Volke eigen war. Jesus war sich der Allgegenwart des Gemüts so klar bewußt, daß er auf dein Wasser wandeln, den Sturm stillen und materielle Phänomene irgendwelcher Art aufheben konnte. Mit andern Worten, seine Erkenntnis der Allgegenwart des Gemüts verdrängte materielle Hypothesen oder Theorien und machte sie null und nichtig. Eben diese Erkenntnis war es, die ihn befähigte, „allerlei Seuche und Krankheit” zu heilen. Einige Jahrhunderte lang wirkte die Kraft des absoluten Wahrheits-Bewußtseins in derselben Weise, dann wurde sie durch das Dogmentum der Kirche verdunkelt, bis ihre Wiederentdeckung durch Mrs. Eddy erfolgte. Es war zu einer Zeit, da Mrs. Eddy dem sterblichen Sinne nach dem Tode nahe war. Der Christus oder die ideale Wahrheit erleuchtete plötzlich ihr empfängliches und harrendes Gemüt, und sie war gesund.

Dies wird stets das Erkennungszeichen der Wahrheit sein. Jede ihrer Ausdrucksformen kann praktisch erprobt werden. Die Erklärung, daß zwei und zwei vier ist, bildet eine unveränderliche Tatsache, ob die Ziffern an Stelle von Äpfeln, Austern oder Feigen stehen. Wie die Eigenschaften des Kreises unveränderlich sind, so sind die mentalen Bestandteile oder Begriffe einer zusammengesetzten Idee unveränderlich, und wir können uns daher stets auf die Lehre des Kreises verlassen. Sie spielt uns keinen Streich, enttäuscht uns nie, weil sie ebenso zuverlässig ist wie das Gesetz, auf das sie sich gründet.

Ebenso verhält es sich mit allen Erscheinungsformen der Wirklichkeit. Unsre Aufgabe ist es, sie zu erkennen. Wenn man die Wissenschaft des Seins verstehen lernt, Gott als das einzige Leben erkennt, als das eine Gemüt, in dem alle geistige Wirklichkeit besteht, und wenn man sich als den Ausdruck dieses Gemüts betrachtet, als eine geistige Idee, die mit dem elterlichen Gemüt eins ist, dann kehrt man in des Vaters Haus zurück. Die Verwirklichung von des Menschen Einssein mit Gott ist unsre Erlösung von jedem Übel, das sich an die zaghaften Schritte der Menschheit heftet. „Christus ist die ideale Wahrheit, die da kommt, um Krankheit und Sünde durch die Christliche Wissenschaft zu heilen, und die Gott alle Kraft beimißt” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 473).

Wahrheit, Wirklichkeit, das Absolute, kann erkannt werden, ja nichts andres ist eigentlich erkennbar. Diese Kenntnis äußert sich durch ihre Früchte, durch ihre Macht, alles zu vernichten, was ihr ungleich ist. Der wirkliche, geistige Mensch ist vollkommen, denn er ist die Bekundung eines vollkommenen Vaters. Er lebt in einem vollkommenen Weltall, das von den unendlichen Ideen desselben Vaters bevölkert ist. In dem Maße, wie die Sterblichen diesen Sinn für die göttliche Beziehung erfassen, werden sie befreit von ihren niedrigen, materialistischen Annahmen und ihren herabziehenden Einflüssen, sowie von den Krankheiten, die aus diesen Annahmen entstehen. Dann tritt die Menschheit, wenn auch vielleicht langsam, so doch sicher, des Menschen rechtmäßiges Erbe an als eines Kindes des Himmelreichs.

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