Der sogenannte Patriotismus, welcher sich allemal bei scheinbarer Kriegsgefahr oder beim Ausbruch des Krieges kundtut, gibt jedem aufmerksamen Menschen zu denken. Wenn das Vaterland bedroht wird, wenn dessen Rechte mißachtet werden und dessen Ehre angegriffen wird, ja selbst wenn nur geringfügige internationale Streitfragen vorliegen, so regt sich sofort ein allgemeiner Impuls, der zuweilen blind und unbedacht, zuweilen wohlüberlegt, aufopfernd und heldenmütig ist.
Der einzelne mag verhältnismäßig wenig von den Tatsachen oder den vorliegenden Streitfragen wissen, und seine alltäglichen Pflichten mögen derart sein, daß sie seine ganze Zeit und Aufmerksamkeit fordern. Dennoch aber setzen zahllose Menschen alle Rücksichten auf ihre Familie und ihre finanziellen Interessen beiseite und schrecken nicht zurück vor der sicheren Aussicht auf schwere Arbeit und schlechte, ungenügende Kost, ja vor der Möglichkeit von Krankheit, Verwundung und Tod. Ihr ganzes Leben lang suchten sie sich gegen Ereignisse zu sichern, die sie jetzt zu bewillkommnen scheinen. Die Macht dieses Impulses über die Sterblichen ist eine der merkwürdigsten Erscheinungen in der Geschichte.
Unter dem Wort Patriotismus versteht man allgemein Vaterlandsliebe. Man kann daher erwarten, daß der Patriot jedem Feind des öffentlichen Wohls oder jedem Einfluß, der den Fortschritt der Allgemeinheit hindert, Widerstand biete. Der wahre Patriot ist ein Mensch, welcher bereit ist, Opfer zu bringen und Leiden zu erdulden, damit die Freiheit und das Wohlergehen seiner Familie, seiner Freunde und seiner Mitbürger gewahrt werde. Mit andern Worten, er ist ein christlicher Idealist. Er erkennt die Brüderschaft der Menschen an. Keine staatlichen oder nationalen Grenzen können seiner Selbstlosigkeit Schranken setzen. Im Fall von Krieg hat er dasselbe Mitgefühl mit den Soldaten in den Laufgräben des Feindes wie mit den Kameraden an seiner Seite. Ferner ist er ebensosehr auf der Hut vor den unpersönlichen Feinden (als da sind Ungerechtigkeit, Habsucht, Leidenschaft und Aberglaube) wie vor einer herannahenden Armee.
Die Christliche Wissenschaft gibt uns den Prüfstein, nach welchem wir die Echtheit unsrer angeblichen Liebe zum Vaterland feststellen können. Sie muß nicht sowohl einer Partei und den eignen Interessen gehören, als vielmehr dem Rechten und Wahren. Sie muß die ganze Menschheit in ihr Wohlwollen einschließen. Von den lokalen Verhältnissen bleibt sie zwar nicht unberührt, behält aber immer die höheren Interessen des ganzen Menschengeschlechts im Auge. Sie muß ebenso mutig im privaten wie im öffentlichen Leben sein, ebenso tapfer im Heim wie auf dem Schlachtfelde.
Je mehr man die Bedeutung der christlichen Brüderschaft und der Treue gegen die Wahrheit erfaßt, desto mehr widmet man sich in verständnisvoller Weise dem Interesse der ganzen Menschheit, ohne dabei das Interesse fürs eigne Vaterland zu verlieren. Der Patriotismus ist dann frei von blinden Impulsen, von Selbstsucht, Stolz und andern unedlen Eigenschaften. Tatsächlich lernt man in der Christlichen Wissenschaft erkennen, daß der wahre Patriotismus das Erscheinen des wahren Menschen bezeichnet. Dieser ist der Verfechter und die Verkörperung der Christus-Idee; sein Kampfplatz ist überall, wo sich Falsches und Unrichtiges verschanzt. Er findet seine Chancen in allen Lebenslagen. Er gehört zu den Menschen, von denen Präsident Wilson mit Recht gesagt hat, sie seien „so mutig, so standhaft, so treu gegen ihr Prinzip, daß sie ihre Pflicht den Mitmenschen gegenüber stets erfüllen, gleichviel, ob sie ausgepfiffen oder applaudiert werden.” Und er fügt sehr richtig hinzu: „Nicht der Applaus des Augenblicks ist zu beachten, sondern das Urteil des eignen Gewissens und des Gewissens der Menschheit.”
Ein wahrer Patriot ist auf jeden Ruf der Pflicht vorbereitet. Er bleibt von der Aufregung des Augenblicks unberührt; er läßt sich nicht von der Menge fortreißen; er ist frei von Furcht; er tritt für Gott und das Recht ein; kurzum, er lebt den Lehren der Christlichen Wissenschaft gemäß.
