Das Bekräftigen der Wahrheit und das Verneinen des Irrtums bilden in der Christlichen Wissenschaft das gedankliche Rechten, welches das menschliche Denken mit dem göttlichen Gemüt in Einklang bringt. Dies kommt in der „Wissenschaftlichen Erklärung des Seins” auf Seite 468 von Wissenschaft und Gesundheit aufs deutlichste zum Ausdruck: „Es ist kein Leben, keine Wahrheit, keine Intelligenz und keine Substanz in der Materie. Alles ist unendliches Gemüt und seine unendliche Offenbarwerdung, denn Gott ist Alles-in-allem. Geist ist unsterbliche Wahrheit; Materie ist sterblicher Irrtum. Geist ist das Wirkliche und Ewige; Materie ist das Unwirkliche und Zeitliche. Geist ist Gott, und der Mensch ist Sein Bild und Gleichnis. Folglich ist der Mensch nicht materiell; er ist geistig.” In dieser Fassung ist die Verneinung des Irrtums tatsächlich eine Bekräftigung der Wahrheit; desgleichen schließt die Bekräftigung der Wahrheit die Verneinung des Irrtums in sich.
Niemand bezweifelt den Wert einer Bekräftigung der Wahrheit, die von Verständnis getragen wird. Eine solche Bekräftigung ist allumfassend, wirksam und genügt allen Erfordernissen. Sie bildet geistiges Wissen, das einen irrigen Gedanken augenblicklich vernichtet und keine Spur von demselben zurückläßt. Durch eine stete Vergegenwärtigung der Wahrheit im Bewußtsein wären Gesundheit und Harmonie gesichert. Wenn wir doch alle diese Vollkommenheit und dieses Ebenmaß im Denken erlangt hätten, diese christusähnliche Reinheit des Gemüts, durch die wir der Notwendigkeit völlig überhoben wären, dem Bösen Aufmerksamkeit zu schenken, weil ja dann alle Sünde überwunden ist! Augenblicke solch klaren Schauens und solch geistiger Ruhe erlebt jeder Christliche Wissenschafter. Während ihrer Dauer wird viel Gutes bewirkt, und dieses Bewußtsein absoluter Herrschaft sollte stets von jedem einzelnen als sein natürliches und gegenwärtiges Eigentumsrecht beansprucht werden.
Weil diese vollkommene Vergegenwärtigung nicht augenblicklich in unserm Bewußtsein stattfindet und dauernd gewahrt wird, erweist sich das Verneinen des Irrtums als eine notwendige und wertvolle Beihilfe. Ein scheinbar hartnäckiger Irrtum, der noch nicht verneint und ausgetrieben worden ist, bildet oft das Hindernis, das der Verwirklichung der Wahrheit entgegensteht. Das sterbliche Gemüt ist ein nichtswürdiger Betrüger und wird selbst betrogen. Es liebt sich selbst und will sich nicht von der göttlichen Liebe leiten lassen. Das Gesetz göttlicher Gerechtigkeit (göttlicher Liebe) zwingt jedoch die Sterblichen schließlich, aufzuwachen, reumütig und demütig zu werden, Liebe zum Guten durch praktische Besserung zu beweisen und dem Befehl zu gehorchen: „Du sollst keine anderen Götter neben mir [Geist] haben.” Diese Änderung des Denkens bildet eine wirksame Verneinung und ist eine unerläßliche Vorbedingung zur wirksamen Bekräftigung der Wahrheit. Welches sterbliche Gemüt ist ganz frei von Eigenliebe und Eigenwillen? Welches menschliche Bewußtsein ist dann gänzlich der Notwendigkeit des Verneinens überhoben?
Beim Bekräftigen der Wahrheit und beim Verneinen des Irrtums muß viel Vorsicht angewandt werden. Diese Vorsicht betrifft hauptsächlich das Verneinen. An der Furcht und dem Widerstreben hinsichtlich des Verneinens ist einzig und allein eine irrige Verfahrungsart schuld. Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß das Übel falsch und unwirklich und daher machtlos ist. Wer nun dem Übel widersteht und es verneint, verfällt bisweilen in den Fehler, etwas daraus zu machen, und hierin liegt die Gefahr. Wenn die Verneinung des Übels den Zweck verfolgt, das Übel zu entlarven, bloßzustellen und hinwegzuräumen, weil es von Anbeginn ein Lügner war und weil seine falschen Ansprüche nicht täuschen können, so heißt dies sicherlich nicht, das Übel zu etwas machen, sondern, seine Unwirklichkeit verstehen. Die Macht der Wahrheit oder das Gottesgesetz ist es also, das die Sünde aufdeckt, und nicht der menschliche Wille. Leiden kann unmöglich daraus entstehen. Wenn man andrerseits dem Übel immer noch bewußt oder unbewußt anhangt oder an dessen Macht glaubt und es dann bloß aus Furcht oder Pflicht verneint, so wird der Glaube an dasselbe nur verstärkt. Hieraus erklärt sich, warum Zeitungsangriffe, persönliche Angriffe und Bloßstellungen, das Hervorheben von Verbrechen und Leiden. Untersuchung des Gesundheitszustandes der Kinder usw. den Menschen gewöhnlich weit mehr schaden als nützen. Mit Krankheit und andern Übeln wird die Menschheit sattsam bekannt; deren Unwirklichkeit sollte jedoch in wissenschaftlicher Weise erkannt werden, damit sie durch Gesundheit und Gerechtigkeit ersetzt werden mögen.
Warum dieses Widerstreben seitens der Sterblichen, dem Irrtum entgegenzutreten und dessen Nichtigkeit zu demonstrieren, da sie doch die unbedingte Notwendigkeit erkennen, die tausenderlei Ansprüche der Sünde im menschlichen Bewußtsein aufzudecken und zu entwurzeln? Warum diese Neigung, den Irrtum zu entschuldigen und unbeachtet zu lassen und dadurch menschliches Leid zu verlängern? Ist es Selbstgerechtigkeit, moralische Blindheit oder das Widerstreben, Sünde einzugestehen und fahren zu lassen, das sich dem ehrlichen Fortschritt entgegengestellt? Ist es eine Abneigung, praktisch zu handeln, die vernunftgemäßen, menschlichen und unumgänglich notwendigen Schritte zu tun, die zu mentalen Fortschrittsstufen emporleiten und über dieselben hinausführen? Ist es die Neigung, sich gehen zu lassen, sich mit blindem Glauben zufrieden zu geben und nur bei Sonnenschein Christlicher Wissenschafter zu sein? Hier sei der Worte unsrer verehrten Führerin gedacht: „Blindheit und Selbstgerechtigkeit klammern sich fest an die Sünde. ... Wenn aber das Übel nicht verurteilt wird, bleibt es ungeleugnet und wird genährt. Unter solchen Umständen zu behaupten, daß es kein Übel gibt, ist an sich ein Übel” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 448). Dieser Denkart liegt, wie Mrs. Eddy erklärt, das Übel selbst zugrunde, welches in listiger Weise die mentale Gleichgültigkeit oder den mentalen Widerstand gegen die Wahrheit erzeugt — einen Zustand des Gemüts, der dem körperlichen Heilen und dem wahren Fortschritt des Schülers hinderlich ist.
In dem Maße, wie die Sterblichen ihr Denken läutern und Fortschritt im geistigen Verständnis machen, wird das mentale Rechten immer entbehrlicher, bis die Zeit kommt, wo für jedes menschliche Bewußtsein eine verständnisvolle Bekräftigung zugleich eine verständnisvolle Verneinung bedeuten und die Verneinung des Übels in der bloßen Bekräftigung der Wahrheit bestehen wird. Doch die Gefahr liegt darin (und dies ist der Hauptpunkt), daß man spricht und handelt, als sei das Ziel bereits erreicht, wodurch die dazwischenliegenden Schritte der Sinnen-Verneinung beiseite geschoben oder außer acht gelassen werden. Hierdurch wird auch das Böse unbewußt genährt und der verwundbare Gedanke den giftigen Suggestionen der Unwissenheit oder der Bosheit ausgesetzt. Ein Argument lautet, es sei menschlich gesprochen alles in Ordnung, weil alles letzten Endes dem Guten diene. In dieser Annahme liegt eine Gefahr, die darin besteht, daß das Böse gut genannt wird. Sagt nicht der Prophet Jesaja: „Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse heißen”?
Das Übel muß als Übel gesehen und erkannt werden, nicht als etwas Gutes, ehe es vernichtet werden kann. Das Böse schrie einst laut beim Nahen Christi Jesu: „Was haben wir mit dir zu schaffen? ... Du bist kommen, uns zu verderben.” Auch sprach es „Friede! Friede! und ist doch kein Friede”, wie wir im Propheten Jeremias lesen. In „Retrospection and Introspection“ (S. 64) sagt Mrs. Eddy: „Es ist wissenschaftlich, in bewußter Harmonie zu verweilen, in gesundheitbringender, todloser Wahrheit und Liebe. Hierzu ist nötig, daß den Sterblichen zunächst die Augen über alle trügerischen Formen, Methoden und Listigkeiten des Irrtums aufgehen, damit die Illusion des Irrtums vernichtet werden möge. Geschieht dies nicht, dann fallen die Sterblichen dem Irrtum zum Opfer.”
Nichts weckt oder rüttelt so das Denken auf wie das ehrliche und entschlossene, aber liebevolle Bemühen, das Übel zu entlarven und zu überwinden. Das Übel ist weder diese noch jene Person. Es ist weder auf diese oder jene Sekte beschränkt, noch wird es beim Namen einer besonderen Konfession oder Person genannt. Vielmehr ist es ein unpersönlicher Usurpator der Macht Gottes und Seiner Vorrechte und muß entsprechend gerügt und völlig verneint werden. Diese weise Art des Vorgehens sollte, statt das Gefühl der Furcht zu erhöhen, oder Haß zu erzeugen, die Furcht völlig verscheuchen und Haß unmöglich machen. Tatsächlich ist dies die einzig sichere Art und Weise, die Ursache von Furcht zu vernichten und sie durch ruhiges und friedvolles Denken zu ersetzen, das in Interessengemeinschaft und in wahrer Liebe aufgeht. Eine ehrliche und liebevoll erteilte Rüge gegen den Irrtum (den materiellen Sinn) trennt diesen von der Wahrheit und vom geistigen Sinn; dann folgt bewußte geistige Herrschaft, und der Irrtum wird nicht eher aufgerührt (zur Chemikalisation gebracht), bis seine Zerstörung erfolgt.
Da wir dem sterblichen Gemüt und seinen mannigfachen irrigen Suggestionen täglich begegnen, so ist es außerordentlich wichtig, daß wir mit unsern Bekräftigungen und Verneinungen stets bereit seien und sie augenblicklich praktisch anwenden. Aber noch mehr: wir müssen bei unsrer mentalen Arbeit so wachsam und scharfsichtig sein, daß wir mentale Gefahren vorhersehen und dem Eintreten von Disharmonien zuvorkommen können. So wird der Lebensweg eben und harmonisch gemacht, denn man gelangt dann zur sicheren Erkenntnis des wesentlichen Punktes, nämlich, daß die Wahrheit des Seins niemals umgekehrt worden ist und niemals umgekehrt werden kann. Das von Wachstum zeugende Bekräftigen und Verneinen heilt Unwissenheit, Furcht und Sünde — denn diese bilden die Ursache aller körperlichen Krankheit —, und das Gesetz des Christus-Heilens kommt hierdurch zur Geltung.
Das Bekräftigen der Wahrheit ist die erste und letzte Tätigkeit des erweckten menschlichen Denkens. Es bildet den Ausgangspunkt wie das Ziel. Aber auf den Entwicklungsstufen des menschlichen Gemüts ist die wissenschaftliche Verneinung des Irrtums die unumgänglich nötige Ergänzung und das sichere Schutzmittel, welches listige mentale Gefahren aufdeckt und umkehrt, das Denken für schnelleres und dauerndes körperliches Heilen vorbereitet und den wahren Wächter in der Christlichen Wissenschaft heranbildet. Ein wahrer Wächter ist einer, der sich der Gefahr bewußt ist, dem die Gefahr aber durchaus keine Furcht einflößt, und der böse Gedanken als solche erkennt und überwindet, ehe es denselben möglich ist, ihn zu überwinden. Ein solcher Mensch wächst stetig in der Gerechtigkeit und macht schnelle Fortschritte himmelwärts — in der Richtung der Harmonie.
Zum wüsten Kampf nicht, der die Stufen
Noch blind umtobt mit Schwert und Brand,
Zur Tempelwacht seid ihr berufen,
Und auf den Höh’n ist euer Stand.
Wenn alle schwanken, trutzen, zagen
Beim jähen Wellenschlag der Zeit,
Sollt ihr in freier Seele tragen
Das Maß und die Gerechtigkeit!
