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Gideons Dreihundert

Aus der Januar 1915-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Die Israeliten hatten einstmals eine wichtige Lehre nötig. Nach dem Dahinscheiden Josuas waren sie auf Abwege geraten, wodurch sie zu Flüchtlingen im Lande Midian wurden und sich aus Furcht vor den Feinden um sie her in den Höhlen des Gebirges versteckten. Dies dauerte sieben lange Jahre, bis sie zuletzt in ihrer Not „zu dem Herrn schrieen” und Er ihnen einen Retter sandte.

Als Gideon auf göttlichen Befehl hin seines Vaters Dreschtenne verließ, um der Führer seines Volkes zu werden, fand er sich eigentümlichen Verhältnissen gegenüber. Die zweiunddreißigtausend Flüchtlinge waren den Midianitern an Zahl so weit überlegen, daß nur ihre Furcht sie abgehalten hatte, ihre Freiheit geltend zu machen. Aber selbst unter ihrem neuen Führer sollten sie sich nicht auf ihre Überzahl verlassen. In der Wagschale Gottes kam es gar nicht in Betracht, wie viele ihrer waren. Dies mußten sie einsehen lernen, damit sie sich in ihrer, dem Auftreten Gideons folgenden Begeisterung nicht rühmen konnten, daß ihre Hand sie befreit habe. Sehr merkwürdig ist die Art und Weise, wie ihnen diese Lehre beigebracht wurde.

Die Stunde der Entscheidung war gekommen. Auf der einen Seite des Hügels waren die Midianiter, und nicht weit von ihnen, „an dem Brunnen Harod”, befand sich Gideon mit seinem Heer. Ehe jedoch der Kampf begann, wurde im Lager der Israeliten bekannt gemacht, daß alle, die „blöde und verzagt” waren, umkehren sollten, worauf zweiundzwanzigtausend nach Hause gingen. Den übrigen wurde befohlen, hinab ans Wasser zu gehen und zu trinken. „Und der Herr sprach zu Gideon: Welcher mit seiner Zunge das Wasser lecket, wie ein Hund lecket, den stellt besonders; desgleichen, welcher auf seine Kniee fällt, zu trinken. Da war die Zahl derer, die geleckt hatten aus ihrer Hand zum Munde, dreihundert Mann; das andre Volk alles hatte knieend getrunken. Und der Herr sprach zu Gideon: durch die dreihundert Mann, die geleckt haben, will ich euch erlösen.”

Oberflächlich betrachtet muß ein derartiger Vorgang in einem solch kritischen Moment höchst sonderbar erscheinen; für den aufmerksamen Bibelforscher aber hat er eine tiefe Bedeutung. Die eigentliche Absicht war, den Eifer und die Kampfbereitschaft der Streiter zu prüfen. Es handelte sich nicht darum, wie der einzelne trinken würde, sondern ob es ihm überhaupt am Trinken gelegen sei, während der Feind in Sicht war und der Kampf nahe bevorstand. Die Auserwählten waren daher diejenigen, die sich nicht lange genug aufhielten, um niederzuknien und gemächlich zu trinken, sondern die in ihrer Kampfbegier mit der hohlen Hand hastig ein wenig Wasser zum Munde führten und alsdann weitereilten. Kein Wunder, daß die Midianiter flohen. Gideons „Dreihundert” stellen die höchste Art der mentalen Wachsamkeit dar, und diese behält stets den Sieg. Nicht durch die zweiundzwanzigtausend, die sich fürchteten, noch durch die zehntausend, die gleichgültig waren, sondern durch die dreihundert, die dem Feinde mutig entgegeneilten, sollte Israel befreit werden.

Zahlen üben oft einen mesmerischen Einfluß aus, vor dem der Christliche Wissenschafter beständig auf der Hut sein muß. Unsre weise Führerin hat diesen Gegenstand für wichtig genug gehalten, um ihm in unsern Kirchensatzungen ihre Aufmerksamkeit zu schenken, indem sie in Artikel VIII, Abschnitt 28 des Handbuchs Der Mutter-Kirche sagt, wir sollten uns „von der Persönlichkeit und von der Volkszählung abwenden.” Man darf sich nicht zu der Annahme verleiten lassen, daß eine große Zahl Erfolg gewährleiste, noch zu der ebenso falschen Annahme, daß eine geringe Zahl Mißerfolg bedeute. Ein einziger rechter Gedanke hat mehr Wirksamkeit, Kraft und Lebensfähigkeit als irgendeine Anzahl falscher Gedanken, gleichviel wie oft und wie heftig sie zum Ausdruck kommen. Wenn alle Menschen auf Erden in demselben Augenblick mit lauter Stimme ausrufen würden: „Die Erde ist flach”, so würde dies unsern Planeten nicht flach machen. Eine einzige Stimme, die darauf erwidert: „Die Erde ist rund”, hat weit mehr Macht als die Gesamtheit aller übrigen Stimmen, weil sie mehr Wahrheit zum Ausdruck bringt.

Diese Tatsache sollte alle Christlichen Wissenschafter mit neuem Mut erfüllen, besonders aber diejenigen, die in kleinen Ortschaften wohnen, wo ihrer nur eine Handvoll ist, und die oft fast den Mut verlieren, wenn sie Woche für Woche die schmale Treppe zu dem kleinen Raum ersteigen, wo ihre Gottesdienste abgehalten werden. Sie sind geneigt zu glauben, mit der Sache der Christlichen Wissenschaft stehe es in ihrer Ortschaft sehr schwach, weil die Anzahl der Mitglieder und sonstigen Besucher so klein ist. „Was kannst du unter so vielen ausrichten”? flüstert der Widersacher. Die Jünger Jesu hörten einstmals auf eine ähnliche Suggestion. Sie brachten dem Meister fünf Brote und zwei Fische und sagten, als sie die Menschenmenge überblickten: „Was ist das unter so viele?” Und doch wurde das Volk gespeist, denn der Meister schaute über die beschränkte Zahl der Brote und Fische hinaus in das Reich der unendlichen Möglichkeiten.

Auch in unsern Tagen kann die Menge derer, die nach dem Brot des Lebens hungern, gespeist werden, wenn die treuen Nachfolger Christi im kleinen Raum die paar Brote und Fische vergessen und statt dessen die immergegenwärtige Fülle der göttlichen Liebe betrachten. Unter denen, die dem Meister in die Wüste folgten, muß ebensoviel Unwissenheit, Unduldsamkeit, Aberglaube, Vorurteil und Opposition bestanden haben, wie heute in manchen Dörfern und kleinen Städten zu herrschen scheint; und doch speiste sie Jesus alle. Wenn er sich bedauert hätte, weil er so ganz allein den fünftausend Menschen gegenüberstand, hätten dann die Jünger zwölf Körbe voll Brocken sammeln können, nachdem alle gespeist waren?

Es hat jemand sehr richtig gesagt, es seien gegenwärtig nicht so sehr mehr Christliche Wissenschafter als bessere Christliche Wissenschafter nötig. Wir wollen daher das Haupt erheben und uns freuen. Der kleine Raum, „wo zween oder drei versammelt sind”, ist vielleicht gerade die Puppe, aus der ein farbenschimmernder Schmetterling erstehen wird, um sich seiner Flügel bewußt zu werden. Sind nicht aus solchen kleinen Anfängen schon oft wunderbare Dinge entstanden? Kennen wir nicht alle einen Raum, wo sich einst eine kleine Schar versammelte, um gemeinschaftlich Abendbrot zu essen und miteinander zu reden, wie Freunde vor einer Trennung zu tun pflegen? Vom materiellen Standpunkt aus betrachtet kann dieser Raum nicht sehr anspruchsvoll gewesen sein, und diejenigen, die sich versammelten, waren nur zwölf an der Zahl. Nichtsdestoweniger ging von da eine Botschaft aus, die die Welt von Grund aus umgewandelt hat.

Bei dem Christlichen Wissenschafter in der großen Stadt äußert sich der Mesmerismus der Zahl in ganz andrer Weise. Er hat seine schöne Kirche und sein wohleingerichtetes Lesezimmer, es sind ihm, wenn nötig, erfahrene ausübende Vertreter zur Hand und er genießt den Respekt der Bürgerschaft. Niemand verfolgt oder verspottet ihn, und seine Zurechnungsfähigkeit wird nicht in Frage gestellt, wenn er in Krankheitsfällen ärztliche Hilfe ablehnt. Alles geht so ruhig und ungestört seinen Gang weiter, daß, wenn er nicht auf der Hut ist, er in einen Zustand der Selbstzufriedenheit und Gleichgültigkeit verfällt. In den kleinen Ortschaften flüstert der Widersacher: „Ihr seid so wenige; wie könnt ihr etwas ausrichten!” In den großen Städten sagt er: „Es sind ihrer so viele; was sollst du dich anstrengen!” Diesen Widersacher müssen wir seinem wahren Wesen nach erkennen lernen, in welcher Verkleidung er auch erscheinen möge, denn seine Absicht ist, uns zur Untätigkeit zu verleiten, damit der Fortschritt unsrer Sache gehindert werde.

Es gibt kein sichereres Verfahren, einen Menschen in Schlaf zu wiegen, als ihm einzureden, es habe keinen Zweck, daß er wach bleibe. Selbst die Jünger hörten einst auf diese Suggestion. Es war im Garten Gethsemane. Der Meister hatte sie aufgefordert, „eine Stunde” mit ihm zu wachen; sobald er sich aber von ihnen abwandte, waren sie wieder vom Schlaf überwältigt. Ist es nicht denkbar, daß sie sich deshalb alle dem Schlaf überließen, weil ein jeder dachte, die andern würden wach bleiben? Und so schliefen sie denn gerade um die Zeit, wo ihre Hilfe so sehr nötig war; denn nur einige Schritte entfernt, im Schatten der mondbeleuchteten Olivenbäume, rang ihr geliebter Meister mit dem Tode, so daß „sein Schweiß wie Blutstropfen” war, „die fielen auf die Erde”.

Wir wollen uns nicht durch die Zahl täuschen lassen. Wenn auch die Christliche Wissenschaft in einer Stadt „populär” geworden ist und die Menschen scharenweise nach ihren Kirchen strömen, so dürfen doch die Christlichen Wissenschafter nicht in der Wachsamkeit nachlassen. Popularität ist oft für Kirchen wie für einzelne Menschen verhängnisvoll. Laßt uns die Tatsache nicht außer acht lassen, daß, wenn wir unsrer Kirchenmitgliedschaft allzu eifrig neues Material zuführen, der geordnete und würdevolle Fortschritt der Kirche als Ganzes oft durchaus nicht gefördert wird. Der kluge Kapitän wird sein Schiff nicht überladen.

Im dritten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung wurde das Schiff sehr überladen, als der Kaiser Konstantin das Christentum zur Staatsreligion machte, um dadurch den Glanz seiner Regierung zu erhöhen. Die leichtlebige Bevölkerung Roms nahm die neue Religion nicht deshalb an, weil sie sie liebte, sondern weil ein Kaiser sie populär gemacht hatte. Wir kennen die Folgen. Kirche und Staat wurden hoffnungslos verquickt, Politik und Persönlichkeit schlichen sich ein, und so ging die Lauterkeit und Einfachheit der Christus-Botschaft nach und nach verloren. Sie erstickte in der überhitzten Atmosphäre gedankenlos dahinlebender Scharen. Ihre Heilkraft, die den früheren Christen zu eigen war, ging verloren, bis Jahrhunderte später eine Frau in so inniger Gemeinschaft mit Gott lebte, daß sie die „köstliche Perle” fand und ihr ihren ursprünglichen Glanz wiedergab. Hat der Mesmerismus der Zahl unsre Führerin, Mrs. Eddy, je berührt? Sie strauchelte nie, obschon es eine Zeit gab, da sie der einzige Christliche Wissenschafter in der ganzen Welt war. Sollten wir uns nicht dieser Tatsachen erinnern — wir in unsern imposanten Kirchen und wir im unansehnlichen Raum? Gideons „Dreihundert” bestehen auch heute noch. Sie bedeuten einen geistigen Zustand, der in Liebe, Emsigkeit und unerschütterlicher Pflichttreue zum Ausdruck kommt. Sie bedeuten eher Qualität als Quantität. An diese „Dreihundert” wandte sich Mrs. Eddy, als sie den folgenden Ruf ergehen ließ, welcher heute noch in den empfänglichen Herzen weiterklingt:

„Sind wir uns unsrer großen Gelegenheiten und unsrer Verantwortlichkeit so recht bewußt? ... Nie ist ein ernsterer und dringenderer Ruf ergangen als der, den Gott gerade jetzt an uns ergehen läßt — eine Aufforderung zur ernsten und absoluten Hingabe an die größte und heiligste Sache, die es je gegeben hat. ... Wollt ihr euch völlig und unwiderruflich dem großen Werk des Aufrichtens der Wahrheit, des Evangeliums und der Wissenschaft widmen, die nötig sind, damit die Welt vom Irrtum, von Sünde, Krankheit und Tod erlöst werde? Antwortet sofort in praktischer Weise, und antwortet richtig!” („Miscellaneous Writings“, S. 176).

Und Gideons „Dreihundert” antworteten!

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