Warum entsteht überhaupt Disharmonie?” haben wir uns in der Not oft gefragt. „Warum ist das sterbliche Dasein nicht frei von Kummer und Leid, warum gleicht das Leben nicht einem rosenbesäten Pfad?” Antworten auf diese Frage sind in der Bibel in Fülle vorhanden, desgleichen in Mrs. Eddys Werken. „Wir brauchen ‚Christum, den Gekreuzigten‘” schreibt sie. „Wir müssen sowohl Prüfungen und Selbstverleugnungen als auch Freuden und Siege haben, bis aller Irrtum zerstört ist.” „Das Leiden, das das sterbliche Gemüt aus seinem fleischlichen Traum erweckt, ist heilsamer als die falschen Freuden, die dazu dienen, diesen Traum zu verlängern” (Wissenschaft und Gesundheit, SS. 39, 196).
Ursächlichkeit, so werden wir belehrt, ist im Gemüt, nicht in der Materie. Alle Disharmonie — dem sterblichen Sinne nach eine Wirklichkeit — entspringt dem sterblichen Gemüt; daher müssen unsre Bemühungen zur Entfernung der Disharmonie gegen die mentale Ursache gerichtet sein, nicht gegen materielle Wirkungen, sei der zu beseitigende Zustand körperliches Leiden, Sünde, Kummer oder Geldmangel. Wenn wir auch Schmerz durch Medizin beseitigen und Armut durch das bloße Beschaffen von Geld überwinden könnten, wenn es uns auch möglich wäre, Balsam für Kummer in materiellen Freuden zu finden und unsre Sündenschuld durch Bußetun abzutragen, so würden wir doch durch ein solches Verfahren keine wahre Heilung erlangen. Da die Ursache der Disharmonie ihrem Wesen nach mental ist, so muß das göttliche Gemüt das Heilmittel sein, und Heilung kann nur durch eine Umwandlung im Bewußtsein bewirkt werden.
Das Heilen hat nicht bloß den Zweck, durch Beseitigung von Schmerz physisches Wohlbefinden wiederherzustellen, durch das Erlangen von Geld finanzielle Not zu beseitigen, oder durch das Jagen nach Vergnügungen Kummer zu vergessen, sondern es soll auch den mentalen Zustand berichtigen, durch welchen diese Irrtümer haben als wirklich erscheinen können; und wenn dies geschehen ist, findet Heilung statt und die Disharmonien verschwinden. Würde man beim Suchen nach Heilung keinen andern Zweck verfolgen, als körperliches Wohlgefühl wiederherzustellen, dann wäre es konsequenter gehandelt, materielle Mittel zu brauchen als die Erlangung eines solchen Wohlgefühls auf mentalem Wege zu erstreben. Es soll uns aber vor allem daran gelegen sein, das Denken zu läutern und das Wesen Gottes in höherem Maße widerzuspiegeln.
Unsre Führerin sagt ferner: „Wenn sich die Sterblichen in ihrem sogenannten Dasein behaglich fühlen, so ist es deshalb, weil sie sich in ihrem heimischen Element der Irrtums befinden, und Unbehagen und Unruhe muß sich ihrer bemächtigen, ehe der Irrtum vernichtet werden kann” („Unity of Good“, S. 58). Wenn die sterbliche Existenz keine Disharmonie zuließe, dann würden wir uns nicht veranlaßt sehen, diese Existenz gegen ein höheres geistiges Leben zu vertauschen, und es würde an der Anregung zu geistigem Streben fehlen. Das scheinbare Vorhandensein von Disharmonie zeigt an, daß im Bewußtsein etwas nicht in Ordnung ist. Ist diesem Anzeichen die gebührende Beachtung geschenkt worden und hat es somit seinen Zweck erfüllt, so verschwindet es.
Wenn ein Lokomotivführer an dem Semaphor das Haltesignal oder das rote Licht über der Weichenstange leuchten sieht als Warnung, daß das Geleise nicht frei ist, so hält er den Zug an. Er dreht nicht etwa den Arm des Semaphors nach „frei”, noch wendet er die Laterne so, daß sie die grüne Linse zeigt, um dann weiterzufahren, als sei das Hindernis nun beseitigt. Nein, er beachtet und versteht das Warnsignal, und nachdem es seinen Zweck erfüllt hat, wird es von dem Beamten, dem das Wegerecht und die Leitung des Verkehrs anvertraut ist, geändert. Der Lokomotivführer fährt dann weiter, fühlt sich sicher und ist dankbar für das Signal, das ihn zum Forschen veranlaßt und einem Unglück vorgebeugt hat.
Auf der Eisbahn im Stadtpark werden bei dünnem Eise Warnungstafeln angebracht. Wird die Gefahr etwa dadurch beseitigt, daß ein Rudel mutwilliger Jungen diese Tafeln entfernen? Nein. Der Hüter des Teiches entfernt die Tafel, wenn keine Gefahr mehr vorhanden ist. Die Schlittschuhläufer können dann ihrem Vergnügen ruhig nachgehen in dem Bewußtsein, daß die Behörden für das öffentliche Wohl Sorge tragen. Wenn ein Musiker einen Akkord greift, und es erklingt dabei ein falscher Ton, so wird er nicht den falschen Ton so stimmen, daß er mit dem betreffenden Akkord im Einklang steht, sondern er wird den richtigen Ton anschlagen. Ähnlich verhält es sich mit all unsern Disharmonien. Sie sind immer Warnsignale. Ein kranker Körper ist ein Anzeichen von kranken Gedanken; Armut bekundet verarmtes Denken oder vielleicht Mangel an Liebe oder eine andre Beschränkung im Bewußtsein; sündhafte Gewohnheiten bedeuten sündhafte Gedanken; Kummer hat zumeist seinen Grund in falsch angebrachter Zuneigung usw. Jede Übertretung der zehn Gebote kündigt sich durch ein Signal der Disharmonie an. Es ist also klar, daß Heilung nicht eher stattfinden kann, bis man auf die mentale Ursache kommt und das Heilmittel anwendet. Wer wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand der Materialität steckt in dem Glauben, er schütze sich dadurch gegen den Angriff des Irrtums, darf dankbar sein, wenn er diesem Wahn entrissen wird. Wir haben die trostreiche Versicherung, daß das allmächtige Mittel für jede Disharmonie, nämlich das göttliche Gemüt, stets gegenwärtig ist, daß es unser ist, wenn wir es uns nur zu eigen machen. Hierzu ist erforderlich, daß wir unser Bewußtsein zu seinem Empfang weit öffnen und alle falschen Vorstellungen ausschließen. Statt Disharmonie wegzuwünschen, wollen wir dankbar sein für die Signale, die uns die Forderungen der Wahrheit zum Bewußtsein bringen, sowie auch für den hohen Preis, den unser liebender Vater für Harmonie fordert. Wir wollen uns freuen, mit Shakespeare sagen zu können: „Süß ist die Frucht der Widerwärtigkeit.”
