Dem fleißigen Bibelforscher müssen die zahlreichen Sinnbilder in der Heiligen Schrift auffallen. So reichlich gebrauchten die Verfasser das Gleichnis und die biblische Redeweise bei der Erläuterung wichtiger, das Wohl der Menschheit betreffender Fragen, daß wir über den Reichtum ihrer inneren Anschauung und die Klarheit ihrer Erkenntnis der Allmacht und Schönheit der Wahrheit staunen müssen. Man findet dies in den Gleichnissen Jesu wie in den Prophezeiungen des Jesaja; in den Schriften des Apostels Paulus wie in den Psalmen Davids. Durch bildliche Ausdrücke und phantasiereiche Darstellungsweise gewannen ihre Schriften nicht nur sehr an poetischem Wert, sondern, und dies ist die Hauptsache, sie weckten auch durch den Hinweis auf das Sichtbare den wahren Sinn für das Unsichtbare.
Ein bemerkenswertes Beispiel dieser didaktischen Methode findet sich im vierten Buch Mose, Der Geist des Aufruhrs, den die Israeliten öfters bekundeten, hatte eine Heimsuchung herbeigeführt, die als der Biß feuriger Schlangen bezeichnet wird. Moses wurde von Gott angewiesen, eine eherne Schlange aufzurichten und den Gebissenen zu sagen, sie sollten diese Schlange unverwandt ansehen und würden dadurch gesund werden. Da sie als Sklaven aufgewachsen und somit an blinden Gehorsam gewöhnt waren, ist es leicht möglich, daß manche unter ihnen die metaphysische Bedeutung der ehernen Schlange nicht erfaßten. Die große Mehrzahl aber muß die Schlange für das Symbol der göttlichen Weisheit gehalten haben, gemäß der Anschauung jener Zeit, und sie legten daher den durch Moses gegebenen Befehl Gottes, die Schlange unverwandt anzusehen, richtig aus. Auf jeden Fall ist ihnen ihre Treue gegen ihren höchsten Begriff von Wahrheit zur Gerechtigkeit gerechnet worden, denn sie wurden geheilt.
Christus Jesus gibt uns den Schlüssel zu diesem Sinnbild, wenn er erklärt: „Wie Mose in der Wüste eine Schlange erhöhet hat, also muß des Menschen Sohn erhöhet werden, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.” In diesen Worten wird die heilende Kraft, welche die Erkenntnis Christi, die Erkenntnis der Wahrheit verleiht, deutlich genannt, woraus sich durch logische Folgerung ebenso deutlich ergibt, daß alles, wovon wir erlöst werden sollen, unwahr und unwirklich ist. Und doch glauben die Christen im großen und ganzen an das Vorhandensein materieller Substanz und ihrer sogenannten Gesetze, die zum Verfall und Tod führen.
Die Christliche Wissenschaft gibt uns die wahre metaphysische Deutung der Worte des Herrn: „Wendet euch zu mir, so werdet ihr selig, aller Welt Enden”; sie bringt uns die wichtige Wahrheit nahe, daß „die Weisheit gibt das Leben dem, der sie hat.” Wie lichtvoll werden doch diese Worte und wie sehr regen sie zum Denken an, wenn wir durch das Studium der Christlichen Wissenschaft erkennen gelernt haben, was wahre Substanz ist — wenn wir zu der Einsicht gekommen sind, daß „alles ... unendliches Gemüt und seine unendliche Offenbarwerdung” ist (Wissenschaft und Gesundheit, S. 468). Wir verstehen nun, was Paulus meint, wenn er sagt: „Lasset uns ... aufsehen auf Jesum”. Um von den Täuschungen des Irrtums befreit zu werden, muß man die Wahrheit erfassen. Diese Tatsache wird niemand leugnen wollen. Ferner muß ein jeder zugeben, daß der „Biß” des Irrtums in dessen Fähigkeit besteht, zu täuschen, die Wahrheit nachzuahmen. Alle, die sich in Unwissenheit und Irrtum befinden, sind in der Tat von „feuriger” Falschheit „gebissen”. Um geheilt zu werden, müssen sie auf die göttliche Weisheit schauen, auf die Wahrheit des Seins. Dies ist die Grundlehre aller wahren Erziehung, die Grundlehre der Erlösung durch Christus, die Grundlehre der Christlichen Wissenschaft. „Die Wahrheit wird euch freimachen.” „Ich bin kommen, daß sie das Leben und volle Genüge haben sollen.” Diese Worte des Meisters werden vollkommen verständlich, sobald wir die trügerische Natur der materiellen Sinne erkannt haben; sobald es uns offenbar geworden ist, daß die Welt dieser Sinne nicht substanziell ist, keinen Raum einnimmt und keine Macht ausübt.
Ein verständiges Herz haben; sich nicht länger von sterblichen Annahmen täuschen lassen; die Gedanken auf Geist und nicht auf Materie, auf das Gesetz des Lebens und nicht auf das Gesetz des Todes richten; nur einen Gott, das ewig Gute haben und verehren, in welchem und von welchem alle Dinge sind — dies ist der Kern des Christentums, auf den die Christliche Wissenschaft so bestimmt hinweist. Wer unverwandt auf die Wahrheit blickt, findet den sicheren Weg zur Erlösung.
