Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß mit der Verweltlichung des menschlichen Denkens viele geistige Ideen auf die Stufe materieller Begriffe herabgesunken sind. Dadurch ist große Verwirrung entstanden. Gar manche Enttäuschung und Verzweiflung wäre den Menschen erspart geblieben, hätten sie über das Wesen dieser Begriffe, die oft mit wahren Ideen nichts gemein haben, hinreichend Aufklärung erhalten.
So glauben z.B. die meisten Menschen, ihr wirkliches Recht auf dem Gericht holen zu müssen. Sicherlich geben sich dort Richter, möglichst unparteiische Menschen, die größte Mühe, Recht zu sprechen. Aber wenn man bedenkt, daß in einem Lande, ja oft schon in einer Stadt, das Recht ist, was in der benachbarten schon für schreiendes Unrecht gilt; wenn man sich vergegenwärtigt, daß ein Richterspruch Ergebnis dessen ist, was etwa drei Menschen zu einer bestimmten Zeit unter Berücksichtigung der und der Umstände an Hand allgemein aufgestellter Normen gerade für Recht halten, so beginnt man zu verstehen, warum der menschliche Richterspruch nur allzuoft entfernt ist von der Verwirklichung des Rechts, von dem der Dichter des freisten Rechts seinen Stauffacher sagen läßt:
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last, greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel
Und holt herunter seine ewgen Rechte,
Die droben hangen unveräußerlich
Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.
Das Recht, wie es nach den Gesetzbüchern gesprochen wird, und jene „ewgen Rechte” sind nur gar zu oft zwei ganz verschiedene Dinge und werden mit Unrecht von der menschlichen Meinung zusammengeworfen.
Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff Liebe. Wer wollte bestreiten, daß gewöhnlich die Menschen unter Liebe zunächst die materielle oder sinnliche Liebe verstehen? Wie weit entfernt sich schon dieser materielle Begriff von den höheren Arten der Mutter-, Freundes- oder Vaterlandsliebe, und wie viel weiter noch von jener Liebe, welche der Jünger, der an des Herrn Brust lag, mit den Worten andeutet: „Habt nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist. So jemand die Welt liebhat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters.” Ist es nicht unhaltbar, zwei Begriffe, die einander direkt entgegengesetzt sind, mit demselben Worte zu decken?
Trägt nicht auch der Begriff Freiheit für die meisten unter uns das Siegel materiellen Sichauslebens, des Genießens ungebundener Kräfte und Rechte in sich? Goethe warnt aufs klarste vor dieser Mißdeutung, wenn er sagt:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben,
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
Ist es mit den Begriffen Leben, Wahrheit u. ähnl. etwa anders? Der Physiologe hat den Begriff Leben so materialisiert, daß für ihn gewisse Bewegungserscheinungen, bestimmte chemische und physikalische Veränderungen Kennzeichen für Leben oder sein Gegenteil sind, ja er hat Leben direkt als die Funktion bestimmter materieller Gesetze definiert. Wie anders definiert Johannes: „Wer den Sohn Gottes hat, der hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht.”
„Was ist Wahrheit?” frug Pilatus. Ist sie das Zeugnis der Sinne, das die Naturwissenschaften als alleinige Erkenntnisquelle für das menschliche Verstehen in Anspruch nehmen und nach dem sie in den letzten Jahren unsre ganze Umwelt so mannigfaltig umgestaltet haben? Birgt das sinnlich Wahrnehmbare, Materielle das Zeichen ewiger Wahrheit? Oder gelten Jesu Worte an den Vater noch: „Heilige sie in deiner Wahrheit, dein Wort ist die Wahrheit?”
Wir sehen also, daß die Menschheit durch die Materialisierung der abstrakten, wahren Begriffe unvermerkt dahin gekommen ist, die heterogensten Dinge mit demselben Namen zu bezeichnen. Dann ist es auch kein Wunder, daß die Menschen sich nicht mehr verstehen, da sie mit einander in andern Zungen reden. Und so wird es auch verständlich, warum Mrs. Eddy, als sie ihr Werk Wissenschaft und Gesundheit der Öffentlichkeit übergab, auf diese Verschiebungen im Sprachgebrauch besonders Rücksicht nehmen und viele Ausdrücke neu definieren mußte, um sowohl ihre Entdeckung des Christus-Heilens als auch ihre Anschauungen über ewige Wirklichkeiten der Allgemeinheit verständlich zu machen.
Lernet um der Welt Lohn und Dank willen nichts anfangen, um ihres Undanks und ihrer Untreue willen nichts unterlassen.—
