Das bekannte Gleichnis, das der Meister von der lebendigen Kraft selbst eines geringen Glaubens an Gott gab, hat manch einen Wanderer auf seinem Wege himmelan gestärkt und ermutigt. Es ist jedoch zu beachten, daß Jesus hier das Senfkorn, „das kleinste unter allem Samen,” nicht als den Maßstab des Glaubens bezeichnete. Er hatte es bereits wegen seiner wunderbaren Fruchtbarkeit mit dem Himmelreich verglichen, und zwar ist klar zu ersehen, daß der Vergleich sich nicht auf das Senfkorn an sich bezog, sondern auf die Bedingung: „Wenn es gesäet ist.” Die Worte „wie ein Senfkorn” wurden offenbar nicht in Anbetracht der Größe, sondern der Qualität gebraucht. Sie hatten Bezug auf die dem Senfkorn innewohnende Lebenskraft und Energie, die sich nur entfalten kann, wenn ihr ihre natürlichen Lebensbedingungen gegeben sind.
Ein Samenkorn an sich ist jämmerlich hilflos und wertlos; sät man es aber auf gutes Land, darinnen es wachsen und gedeihen kann, dann beseitigt oft selbst die zarte Pflanze große Hindernisse. Dies zeigt uns deutlich, daß wir unsern Glauben an Gott in die Tat umsetzen müssen, sonst bleibt die ihm innewohnende Lebenskraft unbenützt und unfruchtbar. Ein andermal sagte Jesus: „Es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe [sein hinderliches Trägheitsvermögen verliere], so bleibt’s allein; wo es aber erstirbet, so bringet’s viel Früchte;” und Jakobus sagt: „Der Glaube, wenn er nicht Werke hat, ist er tot [untätig] an ihm selber.” Diese Art Glaube könnte mit dem ungesäten Senfkorn verglichen werden, mit den ungeweckten Möglichkeiten, Gutes zu wirken, die im Bewußtsein eines jeden schlummern.
Interessant ist es, daß drei Evangelisten, Matthäus, Markus und Lukas, Jesu Gleichnis von dem Senfkorn in ihr Evangelium aufgenommen haben. Sie wollen wohl zeigen, daß das Wachsen des Senfkorns die Entwicklung der eingedrungenen Wahrheit in passender Weise veranschaulicht. Die Senfpflanze wird in der Bibel als ein Kohl bezeichnet, auch als ein Baum. Es scheint demnach, daß sie sehr rasch wächst. Man sagt, bei richtiger Pflege erlange sie in kurzer Zeit die Höhe von zehn bis zwölf Fuß, auch sollen die Vögel gern in ihren Zweigen ausruhen und den Samen fressen.
Der Same schließt naturgemäß den Begriff des Wachsens, des Sichentwickelns und des Reifens in sich. Der Landmann, der ernten will, läßt sein Saatkorn nicht auf seinem Kornspeicher liegen, sondern sät es aus und sorgt für dasselbe bis zur Zeit der Ernte. Daß in dem Boden der lebendigen Beziehung zu Gott selbst ein kleiner Glaube viel zu vollbringen vermag, hat jeder Christliche Wissenschafter bewiesen; aber außerhalb dieses Bodens bleibt der Same „allein.” Als die Jünger sich an den Herrn wandten mit der Bitte: „Herr, stärke uns den Glauben,” antwortete er ihnen mit diesem Gleichnis vom Senfkorn, ihnen bedeutend, daß sie volle Genüge haben würden, wenn sie den Glauben, den sie bereits hatten, anzuwenden sich befleißigen wollten. Mrs. Eddy betont dieselbe Wahrheit, wenn sie in Wissenschaft und Gesundheit (S. 323) sagt: „Um mehr erfassen zu können, müssen wir das betätigen, was wir schon wissen.”
Daß das Zeitalter des Unglaubens nicht vorüber ist, und daß die großen Einöden menschlicher Furcht noch darauf warten, mit dem Saatkorn des Vertrauens auf Gott besät zu werden, zeigen die bedauerlichen Zustände, welche noch unter den Sterblichen herrschen. Die christliche Kirche war in den späteren Jahrhunderten mit dem Glauben an Lehrsätze anstatt mit Glauben an die göttliche Wahrheit zufrieden, überging die klare Lehre, die in obigem Gleichnis Jesu lag, und ließ das Saatkorn zumeist ungesät. Wie ganz anders würde sich die Geschichte des Menschengeschlechtes gestaltet haben, wenn die Christenheit die Gelegenheit ergriffen hätte (auf die der Meister einfach und klar hingewiesen hat), ihren Glauben Frucht bringen zu lassen, sechzigfältig und hundertfältig. Wäre das geschehen, dann würde sich der Wissenschaft des Christentums, die dem neunzehnten Jahrhundert ein besseres Verständnis von Gott brachte, keine Hindernisse entgegengestellt haben. Die Christlichen Wissenschafter weisen auf die Taufende hin, die erweckt, geheilt und von ihren Leiden erlöst worden sind, und erklären, daß des Meisters Lehre in der Christlichen Wissenschaft wieder auflebt, und daß unser Glaube an Gott, auch wenn er „wie ein Senfkorn” wäre, in fruchtbarem Boden Berge des Leidens und der Sorge verdrängen muß.
Die in diesem Gleichnis gegebene Lehre muß auf Christliche Wissenschafter und andre Menschen Eindruck machen, denn wie fest einer auch an die Wahrheit glaubt, wie klar ihre Logik ihm auch erscheinen mag — wenn er nicht den Glauben hat, sie anzuwenden und sich auf sie zu stützen, bleibt sie ihm ein toter Buchstabe. Dieser Glaube ist sehr richtig der Impuls des christlich-wissenschaftlichen Beistandes genannt worden, und zwar handelt es sich nicht um den Glauben an eine Theorie, sondern um das Sichverlassen auf eine verstandene Wahrheit. Leider ist der Glaube an Persönlichkeit an die Stelle des Glaubens an Gott getreten, und dadurch ist das Christentum seiner größten Lebenskraft beraubt worden; denn der Glaube an Persönlichkeit, und sei es auch die des großen Meisters, hat noch nie einen Sterblichen erlöst. Nur der Glaube bringt Frucht, der bestrebt ist, Jesu Vorbild zu erreichen. In der Betätigung der Christlichen Wissenschaft wird manchmal der Fortschritt eines Patienten dadurch gehindert, daß er mehr auf den Heiler als auf Gott vertraut.
Das Gleichnis vom Senfkorn soll gewiß mehr den Anfang als den Höhepunkt des Glaubens schildern. Bevor der Glaube an Materie und ihr falsches Gesetz und falsches Zeugnis erstirbt, bevor es „zur schließlichen Vergeistigung aller Dinge” kommt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 96) muß unser Glaube und unser Verständnis gewaltig wachsen. Es ist viel zu vollbringen zwischen dem Ausstreuen unsrer ersten Glaubenssaat und der Erfüllung der Verheißung des Meisters, daß seine Nachfolger die Werke auch tun werden, die er tat, und größere denn diese.
Wir dürfen uns Christi Gebot, einen stets lebendigen Glauben zu haben, nicht verschließen. Möglicherweise haben wir verabsäumt, den Samen auszusäen, oder aber sind wir beim ersten Stadium des Glaubens stehen geblieben, gerade als ob nichts Weiteres von uns verlangt werde. Unsre erste Ernte bestand vielleicht in der Heilung von irgendeiner Krankheit, und aus Freude, unsre physische Freiheit erlangt zu haben, waren wir mit diesem ersten Ergebnis zufrieden, statt nach höheren Werken zu streben. Der Ertrag dieser ersten Aussaat sollte wiederum gesät werden und dasselbe sollte bei jeder folgenden Feldbestellung geschehen, bis unser ganzes Bewußtsein nur den Glauben an das Gute wiederspiegelt. Auf keine andre Weise können wir, in Befolgung des Gebotes unsres Herrn, unsre Christenpflicht voll und ganz erfüllen.
Die Welt verlangt mit Recht von dem Christlichen Wissenschafter, daß er den Beweis des Glaubens gebe, zu dem er sich bekennt. Körperliches Heilen ist unerläßlich, doch bezeichnet es nur den Anfang unsrer Arbeit. Das Überwinden von Eigenwillen und Eigenliebe, von Haß und ähnlichen Übeln ist für den Fortschritt ebenso unerläßlich und fordert mehr Glauben als das Heilen von leiblichen Schäden. Es fragt sich nun: Sind wir stets wachsam, so daß wir diesen höheren Anforderungen gerecht werden können? Haben wir Glauben (und sei er auch nur „wie ein Senfkorn”) an jenen Kernpunkt des Christentums, den wir so oft aussprachen und der uns von den Wänden unsrer Kirchen entgegenleuchtet: „Gott ist Liebe,” und glauben wir an die daraus sich ergebende Konsequenz, daß der Mensch, der wirkliche Mensch, die Widerspiegelung der Liebe ist? Glauben wir das, wohlan, so laßt uns es aussäen! Haben wir Glauben „wie ein Senfkorn” an unser Bekenntnis, daß Gott unendlich gut und das einzige Gemüt ist, also unser Gemüt, unsre Intelligenz, unser Bewußtsein? Wenn wir das glauben, wenn wir diese Samenkörner das Glaubens haben, dann müssen wir über ihr Wachsen und Gedeihen wachen, bis wir keinen andern Sinn mehr anerkennen und annehmen als „des Herrn Sinn,” und bis wir nur liebevolle Gedanken gegen unsre Mitmenschen hegen. Woran liegt es, wenn wir diese Samenkörner nicht aussäen?
Wir wollen allen Ernstes unsre Aufgabe als Christliche Wissenschafter erkennen. Wir wollen uns täglich zu unserm Glauben an die Allmacht Gottes, des Guten, bekennen, zu der Lehre, daß der Mensch einzig von Ihm geschaffen wurde und daß er heute noch in Seinem Bild und Gleichnis besteht; daß alles Böse, alles, was dem Guten widerspricht, eine Mythe ist, ein Traum, eine falsche Vorstellung. Betätigen wir diesen von uns bekannten Glauben, indem wir ihm Gelegenheit geben zu wachsen und sich so auszubreiten, daß jeglicher Unglaube ausgeschlossen ist? Wie könnten wir sonst beweisen, daß die Christliche Wissenschaft die Wahrheit ist? Die Menschheit braucht mehr als das Heilen von Krankheit, sie verlangt mehr als das Säen des ersten Saatkorns. Ihr Bedürfnis ist eine tatkräftige, nie versagende Liebe; die das volle Christentum umfaßt. Gott verlangt das beständige Aussäen dieses Samens. Wenn dieser Same sich vermehrt, heilt er nicht nur Krankheit und Siechtum, sondern auch die Sünde und den Kummer der Menschen.
