Es gibt ein unfehlbares Zeichen, an dem man die wahren Jünger Christi von allen denen unterscheiden kann, die es nur dem Namen nach sind. Auf dieses Zeichen kann man sich vollkommen verlassen, denn Jesus Christus selbst hat es uns gegeben: „Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt.” Durch all das wirre Treiben dieser neunzehn Jahrhunderte ist sie auf uns gekommen, diese Botschaft Christi, die so voll tiefer Weisheit und doch so lieblich einfach ist, daß „auch die Toren nicht irren mögen.” Denn wir alle erkennen die Liebe, woimmer und wannimmer wir ihr begegnen. Sie wird mit Recht die Weltsprache genannt, die jedermann versteht. Und ob wir in fernen Ländern reisen, deren Sprache wir nicht kennen: sobald uns das Herz von Liebe erfüllt ist, wird jeder ihren sanften, reinen Einfluß spüren, so wie uns der zarte Duft der Nelken auch ohne Worte Kunde gibt von dem Beet vor unserm Fenster.
Niemand sollte diese Weltsprache besser erlernen und reden als der Christliche Wissenschafter, denn niemand wird besser über das Wesen der Liebe belehrt als er. Wir wissen, daß Liebe nur ein andrer Name ist für Gott, und daß die Kinder Gottes als Seine Widerspiegelung jederzeit Liebe haben, Liebe widerspiegeln und ausdrücken. Wie die Stadt, die auf einem Berg erbaut ist, kann sich die Liebe niemals verbergen. Sie zeigt sich im Blick, in der Stimme, im Lächeln, im Händedruck; sie strahlt ihren Glanz in tausend verschiedenen Arten aus, deren sich ihr Besitzer nicht bewußt ist. Das gewöhnlichste Gesicht wird durch die Liebe verwandelt, so daß es angenehm, ja oft schön erscheint.
Unsre Führerin sagt: „Das Lebenselement, das Herz und die Seele der Christlichen Wissenschaft ist Liebe. Ohne sie ist der Buchstabe nichts als der tote Körper der Wissenschaft — ohne Pulsschlag, kalt, leblos” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 113). Wir haben also ein Recht, in dem Leben eines jeden Christlichen Wissenschafters diese göttliche Tugend zu suchen, und wenn wir sie nicht finden, können wir als sicher annehmen, daß etwas nicht richtig ist. In Jesu ganzem Wesen muß sich die Zartheit, das himmlische Mitgefühl der wahren Christusnatur so deutlich ausgesprochen haben, daß er ebensowohl menschlich liebenswürdig wie himmlisch liebreich war. Deshalb müssen wir uns auch heute der freundlichen Gefälligkeit und Rücksicht befleißigen, die der gütige Meister stets bewiesen hat, und vor allem muß sie in einer Kirche der Christlichen Wissenschaft zum Ausdruck kommen.
Und doch können zuweilen Meinungsverschiedenheiten unter denen entstehen, die sich nach Christus nennen und die vor der Welt als Träger einer Religion der Liebe und Brüderlichkeit dastehen, Meinungsverschiedenheiten, die so weit gehen, daß sie wie eine wirkliche Entfremdung aussehen. Hat sich jemand durch schlechte Behandlung so tief verletzt gefühlt, daß er seinen Groll nicht mehr zu beherrschen sucht und zu dem ihm angetanen Unrecht noch die Hitze seines Zorns und seiner Rache hinzufügt, worauf sich seine Freunde um ihn scharen und meinen, ihre Freundschaft durch Parteinahme gegen seine Hauptbeleidiger beweisen zu müssen?
Es ist nur zu wahr, daß Verfolgungen um der Gerechtigkeit willen nicht mit dem tragischen Ereignis auf Golgatha zu Ende waren. Aber man sucht in dem Beispiel Jesu oder in den Lehren der Christlichen Wissenschaft vergeblich nach einem Ausspruch, der den Groll über solch einen läuternden Vorgang rechtfertigen würde. Jeder Schüler der Christlichen Wissenschaft stimmt den Worten Mrs. Eddys bei: „Das Übel ist weder ein Zustand noch eine Größe; es ist weder Intelligenz, eine Person noch ein Prinzip, weder ein Mann, eine Frau, ein Ort noch ein Ding, und Gott hat es niemals erschaffen” (Botschaft von 1901, S. 12). Wie kann denn ein Christlicher Wissenschafter, wenn er im Einklang mit dieser Lehre handeln will, einen Mann oder eine Frau für das unpersönliche Übel verantwortlich machen, das ihn zum Werkzeug haben möchte. Beweist nicht gerade die Schwäche eines Menschen, der sich zu einem willfährigen Werkzeug machen läßt, daß er der heilenden Liebe anstatt der Verdammung bedarf? Verdammung hat noch niemanden geheilt.
Schulkinder sind sich manchmal „böse” und reden nicht miteinander. Sie wissen es eben nicht besser. Aber fast undenkbar scheint es, daß solche kindischen Dinge zwischen reisen und erfahrenen Menschen vorkommen können, ja sogar zwischen solchen, die miteinander für die Sache Christi einstehen. Hier wird vielleicht Widerspruch erhoben. Das Böse ist immer bereit, sich zu entschuldigen. „Ich will nicht heucheln,” heißt es. „Warum sollte ich vorgeben, jemanden gern zu haben, wenn ich weiß, daß er mir beständig in den Rücken fällt?” Menschen, die sich leicht solchen Gedanken hingeben, entschuldigen sich oft damit, daß sie ihrer außerordentlichen Ehrlichkeit wegen nicht anders können. Mehr oder weniger selbstzufrieden versichern sie einem: „Sie können immer sehen, wie ich wirklich denke. Wenn ich jemanden nicht leiden kann, lasse ich ihn das fühlen. Ich bin vollkommen ehrlich und kann einmal nicht anders.”
Betrachten wir uns diese Ehrlichkeit etwas genauer, um uns klar zu werden, wie wenig sie im Grunde wert ist. Nehmen wir an, daß der Betreffende, der behauptet, so überaus ehrlich zu sein, ein Christlicher Wissenschafter sei. Er hat soeben einen Hilfesuchenden zu behandeln, der durch Kummer in der Familie einer völligen Nervenzerrüttung nahe ist. An was wird der Christliche Wissenschafter nun zunächst denken, wenn er seinem Freund helfen will? Er wird vor allem die Unwirklichkeit der scheinbar so schwierigen Lage des Kranken festhalten und sich sofort klar machen, daß die ganze Sache eine falsche Vorstellung ist, hervorgerufen durch den Wahn, daß es einen Geist, ein Bewußtsein außer Gott gebe. Gott, das Gute, ist das einzige Gemüt, und dieses Gemüt enthält keinerlei Mißklang, weshalb auch der Mensch, der vollkommene und umfassende Ausdruck dieses Gemüts, keinen Mißklang kennen kann. So gibt es viel, was der Heiler innerlich zu bekräftigen, und viel, was er zu verneinen hat. Während er nun still dasitzt und für den Freund arbeitet und an die Schönheit und Harmonie von Gottes Schöpfung denkt, in der alle Ideen in vollem Einklang miteinander stehen, während er sich die ewige Tatsache vergegenwärtigt, daß es unter Gottes Kindern niemals etwas andres als Liebe gegeben hat noch geben kann, tut sich die Tür auf, und herein kommt ein Dritter, eben derjenige, mit dem er „böse” ist, mit dem er nicht spricht, wie wir angenommen haben.
Würde unser Christlicher Wissenschafter in diesem Augenblick nicht in großer Verlegenheit sein? Entweder müßte er seinen erklärten Feind mit derselben Liebe anreden, die, wie er soeben erklärt hat, unter Gottes Kindern herrscht, oder, wenn er das nicht täte, wäre er genötigt, jedes Wort der Wahrheit zurückzunehmen, das er behauptet hat. Auf keinen Fall könnte er ein Lob für seine Ehrlichkeit beanspruchen, denn entweder hätte er seinen eignen Behauptungen nicht geglaubt, oder er hätte ihnen geradewegs zuwidergehandelt.
Wir dürfen nie vergessen, daß wir „plappern wie die Heiden,” wenn wir selbst nicht an das glauben, was wir sagen. Man muß die Wahrheit nicht bloß im Munde führen, sondern sie auch werktätig beweisen.
Wer wirklich ehrlich ist, spricht selten von seiner Ehrlichkeit, sondern läßt seine Taten für sich reden. Der wahrhaft Demütige hat nicht nötig, andre an seine Demut zu erinnern. Er ist gewöhnlich zu sehr darauf bedacht, sich in den Hintergrund zu stellen, als daß er von sich sprechen könnte. Wer reines Herzens ist, braucht dies keinem zu sagen. Ein Blick in sein Auge genügt, um seine Reinheit erkennen zu lassen. Braucht die Sonne etwa Lärm zu machen, damit wir wissen, daß sie scheint und die Erde segnet? Es ist genug, daß sie scheint. „Dabei wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt.”
Es ist keine Heuchelei, immer und überall Böses mit Gutem zu vergelten. Jesus wußte wohl um den Irrtum des Pharisäertums und wie er bereit war, ihn in Stücke zu zerreißen wegen der gewaltigen Werke, die er tat; und doch saß er einst zu Tisch mit einem Pharisäer. War Jesus deshalb ein Heuchler? Wäre es ehrlicher gewesen, wenn er dem Pharisäer gesagt hätte, was er von ihm dachte, um dann seine Gesellschaft zu meiden? Der Meister nahm im Gegenteil die ihm angebotene Gastfreundschaft an und erhielt dadurch eine Gelegenheit, nicht allein das reumütige Weib zu retten, sondern auch seinem strengen Wirt einen sanften Verweis zu erteilen, der ihm sehr not tat. Das, was uns in den Rücken fällt, ist niemals ein Mensch. Deshalb müssen wir nach innen schauen, wenn wir unsern wahren Feind finden wollen, und müssen tun, wie die Christliche Wissenschaft lehrt: „Betrachte einfach das als Feind, was in dir das Christusbild, das du wiederspiegeln sollst, befleckt, entstellt und entthront” („Miscellaneous Writings“, S. 8).
Und so laßt uns denn näher zusammenrücken in unsrer heiligen Aufgabe! Wenn uns jemand gekränkt hat, so wollen wir dennoch fröhlich und getrost sein. Uns ist dadurch eine herrliche Gelegenheit gegeben worden, noch mehr zu lieben, mehr zu vergeben, mehr zu vergessen. Es gibt so viel zu tun, die Ernte ist wahrlich so reich, und der Arbeiter scheinen noch so wenige. Laßt uns alle persönlichen Kümmernisse beiseite legen, Hand in Hand weitereilen und uns selbst vergessen, indem wir uns ganz der Ausbreitung des Reiches Christi auf Erden widmen. Unweigerlich beurteilt die Welt den Wert einer Religion nach der Treue ihrer Anhänger. Zu einem Christlichen Wissenschafter sagte einmal jemand: „Ihr guten Leute redet immer davon, daß ihr frei seid. Meint ihr damit, daß ihr tut, wozu ihr Lust habt?” „Nein,” war die Antwort, „wir tun nicht, wozu wir Lust haben, sondern wozu uns die Liebe treibt.”
Wozu uns die Liebe treibt! Gewiß, eine zweifelnde Welt könnte keinen schöneren Beweis wahrer Jüngerschaft verlangen und empfangen. Jesus selbst verlangte diesen Beweis der Liebe von seinen Jüngern, damit sie sein glorreiches Lebenswerk in alle Welt hinaustrügen.
O wie ein köstlich, edel Ding ist es, Gottes Wort für sich zu haben! Dabei kann man allezeit fröhlich und getrost sein. Ein andrer, der Gottes Wort nicht hat, fällt in Verzweiflung, denn es fehlt ihm an der himmlischen Stimme und Trost.—
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