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Langsame Heilungen

Aus der Oktober 1915-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Wer lange Zeit vergeblich auf Befreiung von einem Übel gewartet hat, kann bisweilen der Frage nicht enthalten: „Warum dauert es nur bei mir so lange mit der Heilung? Ich lese und forsche doch aufs gewissenhafteste, tue alles, was von mir verlangt wird, bete ‚ohne Unterlaß,‘ und dennoch bleibt der Zustand unverändert, während doch andre Menschen schnell geheilt werden, anscheinend ohne eigentliche Kenntnis und ohne Verständnis der Wissenschaft, ja ohne jede Bemühung ihrerseits.” So mag es allerdings erscheinen; aber dennoch bleibt die Tatsache bestehen, daß ein jeder seinen eignen Weg gehen und sich die Lehren zunutze machen muß, die er erhalten hat. Als Antwort auf solche mutlose Fragen mag ein Vertreter den Patienten oft auf einige Hindernisse aufmerksam machen; doch wird er bisweilen nur folgende Antwort geben können: „Ich weiß nicht, woran es liegt, daß Ihr Weg so lang und beschwerlich ist. So viel weiß ich aber, daß das Gute über alles erhaben ist und über das Böse siegen muß.”

Man denke an den Fall, da jemand zu unserm Meister kam und ihn fragte, was er tun solle, um wahrhaft frei zu werden. Die Antwort, die eine liebevolle Erkenntnis der Bedürfnisse des Fragestellers bekundete, ist von großer Wichtigkeit: „Verkaufe, was du hast.” Für uns bedeutet dies das Aufgeben des Glaubens an die Wirklichkeit der Materie und ihrer scheinbaren Gesetze, das Überwinden des Grolls, des Hasses, des Neides, der Unversöhnlichkeit und Habgier sowie all der zahllosen Dinge, von denen wir uns nur ungern trennen. Der bestimmte Befehl, der aus alter Zeit bis zu uns gelangt ist, lautet immer noch: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.”

Im Lichte früherer Erfahrungen werden einige der Gründe kenntlich, warum Wachstum und Befreiung sich oft zu verzögern scheinen. Das Gefühl des Zweifels hat sehr viel mit langsamem Heilen zu tun. Wohl mag die Theorie der christlich-wissenschaftlichen Praxis völlig klar erfaßt werden, aber es bleibt oft ein heimlicher Zweifel übrig bezüglich ihrer Wirksamkeit. Diese Praxis erscheint dem, der lange gewöhnt gewesen ist, sich völlig entgegengesetzter Methoden zu bedienen, als etwas Seltsames und Ungreifbares. Der Glaube an die Macht des Bösen, namentlich wenn sie sich als Krankheit kundtut, scheint in manchen Menschen so tief eingewurzelt zu sein, daß sie trotz ihres Wunsches, alles fahren zu lassen und auf das Unsichtbare zu vertrauen, dennoch zäh an den alten Vorstellungen und Befürchtungen festhalten. Hinsichtlich eines physischen Übels sagen sie wohl: „Ich muß es unbedingt loswerden,” halten es sich aber dennoch vor als etwas sehr Wirkliches und Gewaltiges, als etwas, was man zu fürchten hat. Welches Gefühl der Erleichterung bringt dann die klare Erkenntnis, daß es in Wirklichkeit nichts loszuwerden gibt, daß einem als Gottes-Idee „kein Übels begegnen” kann! Und welchen Trost bringt die Überzeugung, daß man mit zunehmender Erkenntnis der Wahrheit ebenso zäh an ihr festhalten wird, wie ehedem an einer irrigen Vorstellung von den Dingen.

Nicht selten kommen sich Schüler der Christlichen Wissenschaft eine Zeitlang wie verloren vor. Ihre alte, materielle Anschauung von Gott, derzufolge sie Ihn wie einen irdischen Vater anflehten, ist durch diese Lehre aufgehoben worden, und da sie statt ihrer nichts finden als einen scheinbar abstrakten Begriff, rufen sie wohl mit Hiob aus: „Ach, daß ich wüßte, wie ich ihn finden ... möchte!” Sie sind noch nicht zu einer klaren Vorstellung von Gott gelangt, und ein Beten zum Prinzip will ihnen nutzlos erscheinen. Sie denken, wenn man reden soll, so müsse man doch jemand haben, den man anreden kann. So entsteht zuweilen ein Zustand der Ratlosigkeit, dem durch geduldige, liebevolle Anleitung abgeholfen werden muß. Mag die richtige Erkenntnis auch langsam kommen, so ist sie doch unausbleiblich. Der Anfänger lernt nach und nach verstehen, daß sich Gott durch Christus Jesus bekundete, und daß dieser, da er gottgleich war, uns frei heraus verkündigte vom Vater (siehe Joh. 16:15)— von Seinem Wesen und Seinen Eigenschaften, von Seiner unendlichen Liebe und Barmherzigkeit. Da wir unsre Freunde eigentlich nur an den mentalen Eigenschaften kennen, die sie zum Ausdruck bringen, so lernen wir auch durch die Kundwerdung göttlicher Eigenschaften und Zustände Gott kennen, ihren Ursprung. Das geistige Weltall ist erfüllt von der Liebe, ist auf die Liebe gegründet, und diese ist Gott. Leben ist ewig und überall gegenwärtig, und dieses Leben ist Gott. Wahrheit ist absolut und unwandelbar, sie bildet alle Wirklichkeit. Und so gibt es tatsächlich durch alle Ewigkeit hindurch nichts, was erkannt werden könnte, außer der Wahrheit, und die Wahrheit ist Gott.

Noch eins, was denen oft hinderlich ist, die in aller Aufrichtigkeit in die Wohnungen des Friedens eingehen möchten, die Tür aber anscheinend nicht finden können, ist das Vertrauen auf den menschlichen Verstand, den sie vordem für etwas sehr Gutes und durchaus Maßgebendes gehalten hatten. Sie erklären, sie könnten nur bis zu einem bestimmten Punkte gelangen und fänden sich dann einer undurchdringlichen Mauer gegenüber. Diese Mauer ist die materialistische Annahme sowie die Sinnenvorstellung von einem eignen Selbst, das alles aus eignen Kräften vollbringen müsse. Zuweilen hört man in bezug auf das Lehrbuch die Bemerkung: „Gerade dieses Buch verwirrt mich oft ganz und gar. Ich werde aus seinem Inhalt durchaus nicht klug.” Dies ist die unvermeidliche Folge, wenn man Wissenschaft und Gesundheit wie irgendein andres Buch lieft — wenn man dessen Seiten durchfliegt und den Sinn auf gewöhnlichem Wege zu erfassen sucht. Es wird vor allem von dem Leser verlangt, daß er sein Netz auf die rechte Seite werfe, d. h. seine Gedanken müssen die geistige Richtung nehmen. Wie viele verarbeiten das Gelesene und machen es sich so recht zu eigen?

Es ist schwer, etwas aufzugeben, worauf man sich so viele Jahre gestützt hat, zumal wenn es sich um etwas scheinbar Gutes handelt. Auf Seite 351 unsres Lehrbuchs, Wissenschaft und Gesundheit, schreibt Mrs. Eddy: „In ihrem Versuch das Geistige anzubeten, machten die Israeliten das Materielle zum Mittelpunkt ihrer Gedanken. Für sie war Materie Substanz und Geist Schatten. Sie gedachten Geist von dem materiellen Standpunkt aus anzubeten, aber das war unmöglich.” Viele von uns kennen keine andre Art des Suchens und sind erstaunt zu hören, daß uns eine bessere Art gezeigt worden ist. Sie besteht in der Erkenntnis, daß es nur ein Gemüt, eine Intelligenz gibt, und daß wir nur in dem Maße wie wir uns unsres Seins als einer Widerspiegelung und Kundwerdung dieses Gemüts bewußt werden, zu einer erlösenden Kenntnis der Wahrheit gelangen, die da frei macht.

Mit der allmählichen Erkenntnis der Allheit des Gemüts kommt das freudige Bewußtsein, daß nur durch gute Gedanken gute Zustände erzeugt werden können. Die Unhaltbarkeit der alten Anschauung, daß es viele Gemüter gebe, wird dem Menschen klar, wenn er erkennt, daß diese vielen sogenannten Gemüter alle möglichen Dinge ersinnen, die große Macht beanspruchen, die aber, weil sie keinen wirklichen Ursprung haben, Gottes Idee — den Ausfluß des einen Gemüts, das keine Disharmonie kennt —, nicht beherrschen, regieren oder beeinflussen können. Das Gottesbewußtsein reagiert nur auf das Gute und wird von keiner Suggestion des Bösen beeinflußt. So wird man mit dem normalen, harmonischen und vollkommenen Menschen vertraut, mit den Fähigkeiten, Tätigkeiten und Wirkungen, die von einem Gesetz, dem geistigen, regiert werden. Selbstliebe, geistiger Hochmut, der Wahn, daß Gottes Geschöpfe Schöpfer sein können, muß aufgehoben werden, und die Erkenntnis muß sich Bahn brechen, daß jede gute Tat, jeder gute Gedanke, den man je gefaßt, jeder noch so geringe Ausdruck aufopfernder Liebe von Gott kommt, ob dies nun anerkannt wird oder nicht.

Noch eins tun viele nur zögernd, wenn sie anfangs bei der Christlichen Wissenschaft Hilfe suchen, nämlich, der Erklärung beizustimmen, daß Freiheit bereits besteht, ob nun der äußere Zustand dies anzeigt oder nicht. Wenn einem Anfänger gesagt wird, er müsse in dieser Beziehung eine positive Stellung einnehmen und dementsprechende Erklärungen machen, so will es manchem scheinen, als sage er etwas, was nicht wahr ist, denn er hat noch nicht einsehen gelernt, daß er mit dem Behaupten der Vollkommenheit das alleinig Wahre anerkennt. Er sieht noch nicht ein, daß, wenn er sich auf die Seite der Unvollkommenheit stellt und diese gewissermaßen vertritt, er falsches Zeugnis redet wider etwas, was Gott vollkommen gemacht hat, nämlich wider das in Seinem Bilde geschaffene Kind Gottes. Er widersteht unbewußt der Wahrheit, und oft stellt sich noch ein starker, hartnäckiger Zweifel hinzu hinsichtlich der eignen Fähigkeit, das heilende Prinzip zu verstehen. Eine gewisse Hilflosigkeit bemächtigt sich des Schülers bisweilen bei seinen Bemühungen, auf eine höhere Stufe zu gelangen. Er bedauert, daß das, was vordem Kenntnis zu sein schien und ein Gefühl der Kraft verlieh, weder Bestand noch Wirklichkeit haben soll. Wahrlich, „dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott,” und es ist ein Segen, daß dem so ist, denn durch Ringen und Mühen und das Aufgeben früherer Dinge wird jene Demut geboren, die allein zu bleibender Herrschaft führt, weil sie eine bewußte Einheit mit Gott herstellt und die Aufhebung des eignen „Ich,” das dereinst wähnte, so vieles aus eigner Kraft vollbringen zu können, zur Folge hat.

Bei dem, der sich zur Hebung einer Krankheit, nachdem die Ärzte die ersehnte Hilfe nicht haben bringen können, der metaphysischen Heilweise zuwendet, ist der vorherrschende Gedanke der, geheilt zu werden. Er will nichts andres, sucht nichts andres. Wenn nun jemand, dessen Denken sich in solchen Bahnen bewegt, schnell geheilt wird, vergißt er leicht die Kraft, durch die er Gesundheit erlangt hat und zollt nicht den gebührenden Dank. Er macht keinen Versuch, ein Täter des Wortes zu sein, sondern bleibt ein bloßer Empfänger. Man hat alle Ursache zur Dankbarkeit, wenn in einem solchen Fall die Heilung sich verzögert, bis dem Betreffenden der Sinn für die geistige Seite der zur Anwendung kommenden Lehren aufgeht und er den Punkt erreicht, wo er weiß, daß er die Religion gefunden hat, deren er wirklich bedarf, gleichviel ob er durch sie sofort Heilung erfährt oder nicht.

Ferner ist es für manche Menschen durchaus notwendig, in die Einsamkeit getrieben zu werden, um sich selber zu finden, um sich als Kinder des Geistes zu erkennen, um mit ihrem wahren Selbst bekannt zu werden, um zu dem Punkte zu gelangen, wo sie gewillt sind, dem Beispiel des Paulus zu folgen und es „alles für Schaden” zu achten „gegen die überschwengliche Erkenntnis Christi Jesu,” und zu lernen, daß Gott Alles ist, und sie aus sich selbst nichts sind. Hierzu ist Zeit, rechtes Denken und andachtsvolles Studium nötig — ein allmähliches Beseitigen der alten Anschauungen und Gewohnheiten; ein Ablegen vieler Fehler, von denen manche einstmals für Tugenden galten; ein Umstoßen der Ergebnisse falscher Erziehung und eine von einer völlig neuen Grundlage aus betriebene Art der Selbstprüfung. Üble, vielleicht bisher ungeahnte Charakterzüge und Eigenschaften müssen als solche erkannt und sodann in ehrlichem Bemühen „durch den, der ... mächtig macht, Christus,” vernichtet werden.

Bisweilen hört man wohl jemand sagen: „Es ist mir gleich, wie beschwerlich der Weg ist, wenn ich nur schließlich das Ziel erreiche; aber es scheint, als gehe es trotz aller Bemühungen gar nicht vorwärts.” Das ist aber nie der Fall, denn nachdem man dann Befreiung gefunden, zeigt es sich, daß man viel weiter auf dem Wege ist, als man geahnt hatte. Solchen Wanderern zum Trost schreibt unsre Führerin: „Wenn ihr in euren Bestrebungen von schrecklicher Übermacht bedrängt werdet und keinen augenblicklichen Lohn empfangt, geht nicht zurück zum Irrtum, und werdet auch nicht säumig im Wettlauf. Wenn der Dampf der Schlacht sich zerteilt, werdet ihr das Gute erkennen, das ihr getan habt, und empfangen, was ihr verdient. Liebe eilt nicht, uns aus der Versuchung zu befreien, denn Liebe will, daß wir geprüft und geläutert werden sollen” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 22). Es bedarf Zeit, bis ein Mensch die Allheit des Guten einsehen lernt und den Suggestionen, die aus dem Glauben an die Wirklichkeit des Bösen hervorgehen, Augen und Ohren verschließt. Und wer hat diesen Punkt völlig erreicht? Bedeutet eine solche Erkenntnis nicht schon Freiheit, wenn auch nur in geringem Grade, und ist sie nicht des Harrens und Strebens wert?

Wir bitten nur dann in richtiger Weise, wenn wir bitten, daß uns nach Maßgabe unsres Verdienstes Gutes zuteil werde. Dennoch aber scheint bisweilen die Belohnung den Verdienst weit zu übersteigen, zumal wenn der Betreffende nach der Vernichtung des eignen Leidens andern beistehen kann. Wenn wir jedoch mutig voranschreiten, so werden „dieser Zeit Leiden,” mögen sie auch noch so schwer erscheinen, „der Herrlichkeit nicht wert” sein, „die an uns soll offenbaret werden.” Jede Entmutigung kann uns zur Lehre gereichen. Jedesmal nach dem Verschwinden eines dunklen Schattens scheint das Licht ein wenig heller, und man ist ein Stück vorwärts gekommen. Hat man aber all die Prüfungen bestanden, dann stellt sich ein Gefühl größter Liebe und Barmherzigkeit ein gegen alle, die da leiden; und als Ergebnis der eignen Erfahrung wird einem Geduld mit denen, die ebenfalls nur „langsam” vorwärtskommen, sowie der Drang, Hilfe, Trost und Ermutigung zu spenden, sozusagen zur zweiten Natur. Laßt uns also beharrlich fortfahren; laßt uns gläubig und vertrauensvoll den Blick nach oben richten, bis jene glückliche Zeit kommt, da wir mit Paulus sagen können: „Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe Glauben gehalten.”

Wohl mag jemand einwenden, es würden doch viele ohne eine solche Vorbereitungszeit geheilt. Über derartige Heilungen freue sich ein jeder und sage Dank. Je mehr derselben, desto besser. Leute, die ruhig warten, dienen bisweilen besser als viele denken. Wenn man anfängt, sich und andern den Grund der Hoffnung anzugeben, die in einem ist, findet man, daß man eigentlich erst in den Windeln steckt, daß man erst auf der Schwelle einer großen Wahrheit angekommen ist, die zum ewigen Leben führt. Wie herrlich ist doch die Idee der Unerschöpflichkeit von Wahrheit und Liebe!

Durch ernstes, fortgesetztes Streben, Forschen und Überwinden jagen wir „dem vorgesteckten Ziel” nach. Der Pilger fühlt sich aber nicht mehr allein, denn er hat gelernt, daß der Vater auf Schritt und Tritt bei ihm ist. In Mrs. Eddys „No and Yes“ (S. 28) finden wir die Versicherung: „Die Nebel des Irrtums werden früher oder später in der sengenden Glut des Leidens vergehen; Sterblichkeit wird die Beschränkungen des Sinnes sprengen, und der Mensch wird als vollkommen und ewig erfunden werden.”

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