In ihrem Werk „Miscellaneous Writings“ schreibt Mrs. Eddy: „Das menschliche Herz ist einem Federbett ähnlich, das man des öfteren und manchmal recht heftig aufschütteln muß, damit es nicht zu hart und unbequem werde” (SS. 127–128). Das Gefühl, das wir gewöhnlich Reue nennen, läßt wohl die Wahrheit dieses Vergleichs am besten erkennen. Es gibt kaum einen Gemütszustand, der schwieriger zu handhaben wäre als der der Reue. Jeder Reformer, jeder Arbeiter auf dem kirchlichen Gebiet wird dies bestätigen.
Die meisten Leute, die der Versuchung zum Opfer gefallen sind, tun nur deshalb Buße, weil man sie ertappt hat, nicht aber aus einem aufrichtigen Verlangen, die Sünde loszuwerden. Da ein solches Verhalten auf Zweckdienlichkeit anstatt auf Prinzip beruht und größtenteils von Furcht, Stolz oder Groll beherrscht wird, so ist es natürlich großen Schwankungen unterworfen. „Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding,” schrieb Jeremia. Das Herz irrt sich sehr leicht hinsichtlich der Echtheit seiner Vorsätze zur Umkehr; es fährt trotz scheinbarer Besserung im geheimen fort, schlecht zu denken und zu handeln. Aber der Tag der Bloßstellung wird kommen, und dann wird es die Berge anflehen, seine Sünden zu bedecken.
Im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit, finden wir zahlreiche Stellen, die die Nutzlosigkeit einer Reue ohne Besserung hervorheben. Daß diese Anschauung wissenschaftlich ist, wird uns sofort klar, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß das Wort Reue soviel bedeutet wie „seinen Sinn ändern.” Was nützt es dem Menschen, wenn er nur aus Furcht vor der öffentlichen Meinung oder vor den schlimmen Folgen von der Sünde läßt, auf der er ertappt worden ist. Man entferne diese Schranken, und der Mensch ist der gleiche Sünder wie vorher; eine Besserung hat nicht stattgefunden. Die Welt gibt sich leider nur allzu leicht zufrieden mit dem, „was vor Augen ist.” Jedenfalls findet sie es ratsamer, die Untersuchung nicht zu eifrig zu betreiben. Mit solch oberflächlichem Verfahren gibt sich jedoch die Christliche Wissenschaft nicht zufrieden. Die Wahrheit duldet keinen solchen Kompromiß mit dem Irrtum. Wer sich bemüht, ihren Anforderungen gemäß zu leben, wird sich des obenerwähnten „Aufschüttelns” in seinem Bewußtsein bald gewahr werden, ja manchmal macht es sich in sehr unbequemer Weise bemerkbar.
Auf Seite 285 des Lehrbuchs nennt Mrs. Eddy einen der Hauptgründe, warum wahre Reue so selten ist. Sie schreibt: „Wenn wir Gott als einen körperlichen Erlöser deuten und nicht als das erlösende Prinzip oder die göttliche Liebe, dann werden wir auch fernerhin durch Vergebung und nicht durch Besserung Erlösung zu finden suchen und zur Materie anstatt zum Geist unsre Zuflucht nehmen, um die Kranken zu heilen.” Daß wir die Sünde durch unsre Furcht vor ihren schlimmen Folgen los werden können, und daß Gott ein persönlicher Erlöser ist, stets bereit, uns beim ersten Anzeichen der Reue zu vergeben — diese Annahmen sind irrig und ziehen schlimme Folgen nach sich. Ehe uns aber die Christliche Wissenschaft Gott als Gemüt oder das göttliche Prinzip offenbarte und uns über die Beziehung des Menschen zu Ihm belehrte, wurden diese Irrtümer nicht gründlich aufgedeckt. Paulus erklärte den Römern mit folgenden Worten, worin wahre Buße besteht: „Verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes.” Dies ist eine genaue Beschreibung des Vorgangs. Wenn man einem Menschen keinen Grund angeben kann, warum er von einer Sünde lassen soll, die ihm seiner Ansicht nach Genuß bereitet, so ist es sicherlich unvernünftig, zu erwarten, daß er sie ablege. Wie die Erfahrung zur Genüge bewiesen hat, genügt es nicht, ihn darauf hinzuweisen, daß er und seine Familie oder Nachkommen in der Zukunft leiden werden. Niemand denkt so ernstlich an die Zukunft oder kümmert sich so sehr um sie, als daß seine Handlungen dadurch besonders beeinflußt würden. Man erkläre dem Sünder das trügerische Wesen der Sünde und bringe ihm den wahren Begriff vom Guten bei, einen Begriff, der über dem schwachen menschlichen Willen steht und den er ergreifen und festhalten kann, bis sich sein ganzes Wesen umgestaltet hat. In Verbindung hiermit ist die Stelle in Wissenschaft und Gesundheit (S. 308), wo uns Mrs. Eddy die Auslegung gibt von Jakobs Kampf, als „da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach,” von besonderem Interesse.
Selbstverständlich bezieht sich der obenerwähnte Begriff vom Guten nicht auf das Gemisch von Gutem und Bösem, das bald zu „Staub und Asche” wird und das der dürstenden Seele auf ihrer Suche nach etwas Höherem nur allzu oft dargereicht wird, sondern auf das absolute, allmächtige, göttliche, schöpferische und unveränderliche Gute als Gesetz und Prinzip. Wohl das Wunderbarste in der Christlichen Wissenschaft ist, daß sie diese Umwandlung sozusagen selbstwirkend herbeiführt, solange man ihr nichts in den Weg legt. Die Wahrheit arbeitet ruhig und fast unbemerkt, und die Denkweise eines Menschen, der sie angenommen hat, wird so umgestaltet, daß Harmonie und Tugendhaftigkeit an Stelle von Chaos und Sünde treten.
Vor allem muß die allgemeine Ansicht geändert werden, daß Güte und Geistlosigkeit fast gleichbedeutende Begriffe seien. Dies ist wohl dem Umstand zuzuschreiben, daß, bevor die Christliche Wissenschaft erschien und geistige sowohl als körperliche Gesundheit lehrte, „gute” Leute oft zu vergessen schienen, daß die Frucht des Geistes „Freude” ist, wie die Bibel erklärt. Wenn man als Ergebnis seiner Religion sich wohl, arbeitslustig und frei von Furcht fühlt, so scheint man nicht nur glücklich und lebensfroh zu sein, sondern ist es auch. Ein besseres Verständnis des absoluten Guten bringt einen richtigeren Begriff von dem Wesen wahrer Glückseligkeit mit sich, so daß Vergnügungen, die früher anziehend oder sogar notwendig erschienen, einer vernünftigeren Art von Erholung Platz machen. Dies gilt in bezug auf alles geistige Wachstum. Die Spielzeuge, welche wir in der Kindheit benutzten, mußten dem Gesetz des Fortschritts weichen, und andre, für ein reiferes Alter geeignete Dinge, traten an ihre Stelle.
So kann der hartnäckigste Sünder durch wahre Reue, durch die „Erneuerung” seines Sinnes sich selbst sowohl als andre frei machen. Die Erkenntnis der Allheit Gottes oder des Guten und der Nichtsheit des Bösen führt ihn aus dem Reich der Impulse und des Wankelmuts in das Reich unendlicher Möglichkeiten. Er erkennt freudig, daß er in Wahrheit ein neugeborener Mensch ist und sieht die Worte des Propheten: „Du wirfest alle meine Sünden hinter dich zurück,” in einem neuen Lichte.
