In einer Mittwochabend-Versammlung in Der Mutter-Kirche wurden kürzlich zwei Gebote Jesu verlesen: „Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt,” und: „Richtet ein recht Gericht.” Die darauffolgenden Stellen aus Wissenschaft und Gesundheit waren zum Teil aus dem Anfang des Kapitels „Betätigung der Christlichen Wissenschaft,” wo Mrs. Eddy davon spricht, wie Jesus die große Sünderin (Maria Magdalena, wie man annimmt) auf seine göttliche Art behandelte. Ist nun das Kritisieren und Verdammen andrer dem eignen Fortschritt in der Erlangung von Gesundheit und Harmonie hinderlich? Ja, ohne allen Zweifel. Nichts bringt das Unheil, das uns und andern durch falsche Kritik erwächst, kürzer und treffender zum Ausdruck, als des Meisters Ausspruch: „Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt.”
Vielleicht kann die Wichtigkeit dieser Worte durch ein Beispiel erklärt und nutzbar gemacht werden. Wenn man eine meilenweit geradeauslaufende Eisenbahnlinie auf einer unabsehbaren Ebene mit dem Blick verfolgt, so scheint es, als träfen die beiden Schienen schließlich zusammen. Wollte man nun die Eisenbahnverwaltung verdammen, weil sie solche Zustände gestatte, so würde man sich nur selbst verdammen, denn das eigne falsche Urteil würde einem aus Angst vor dem scheinbar unausbleiblichen Unfall nie erlauben, einen Zug zu besteigen. Auf diese Weise leidet man an ungerechtem Urteil, bis man „ein recht Gericht” richtet. Dies aber kann nur dadurch geschehen, daß man das falsche Zeugnis der Sinne durch die Wahrheit berichtigt. Und so ist es auf allen Lebensgebieten. Sobald man lieblos kritisiert und verdammt, urteilt man nicht „recht” sondern schließt sich von den heilenden Wirkungen der göttlichen Liebe aus. Das gerechte Urteil erkennt alle Menschen als Brüder und (ihrem wahren Wesen nach) als Kinder Gottes. Die Fehler, die die Sterblichen begehen, dürfen ihnen nicht unbarmherzig zur Last gelegt werden. Wir alle brauchen Nachsicht, und wer sich das klar macht, wird nicht mehr über andre aburteilen, sondern geduldig bessere Zustände abwarten.
Das Gebot „Richtet nicht” soll keineswegs heißen, daß man im täglichen Leben Klugheit und Vorsicht beiseite setzen darf. Man muß sich diese Vorschrift stets zusammendenken mit dem andern bereits angeführten Wort Jesu: „Richtet ein recht Gericht.” Damit soll gesagt sein, daß man im Verkehr mit dem Mitmenschen stets „vernünftiglich” handeln soll. Jesus gab es einmal deutlich zu erkennen, was er mit seinem Geheiß „Richtet nicht” meinte. Es sprach einer aus dem Volk zu ihm: „Meister, sage meinem Bruder, daß er mit mir das Erbe teile.” Jesus aber antwortete: „Mensch, wer hat mich zum Richter oder Erbschichter über euch gesetzt?” Er weigerte sich also, als Richter zu fungieren oder einen andern des Vorrechts der Selbstentscheidung zu berauben. Auch sprach er kein Verdammungsurteil über die Sünderin aus, als Simon, der Pharisäer, es von ihm erwartete. Dennoch aber richtete er „ein recht Gericht,” und die Folge war die Aufrichtung und Erhebung dieser Ausgestoßenen. Wenn Maria Magdalena und diese Sünderin ein und dieselbe Person waren, so wurde sie eine treue Anhängerin Jesu, und zwar war sie die Letzte am Kreuz und die Erste am Grabe.
Bitte anmelden, um diese Seite anzuzeigen
Sie erlangen vollständigen Zugriff auf alle Herolde, wenn Sie mithilfe Ihres Abonnements auf die Druckausgabe des Herold ein Konto aktivieren oder wenn Sie ein Abonnement auf JSH-Online abschließen.