Ein Schüler der Christlichen Wissenschaft, der in sittlicher und körperlicher Hinsicht Heilung erfahren hat, der durch Vergeistigung seines Bewußtseins die Christus-Idee des von der Materie getrennten Lebens erschauen durfte und der den Lehren der Christlichen Wissenschaft treu ist und seine ganze Zeit der berufsmäßigen Ausübung derselben widmen kann, wird als ein christlich-wissenschaftlicher Praktiker oder ausübender Vertreter bezeichnet. Er ist kein bloßer Hörer, sondern ein Täter des Wortes Gottes, ein lebendiges Beispiel für den praktischen Wert des Christentums. Er weiß aus Erfahrung, daß die Wahrheit beweisbar ist, und von Dankbarkeit durchdrungen für das ihm widerfahrene Gute betrachtet er es als seine vornehmste Aufgabe, sein Denken zu läutern und rein zu erhalten, damit er die heilende Wahrheit auch andern bringen könne. Reichlich hat er empfangen, reichlich möchte er geben.
Im Grunde genommen sind alle, die durch die Christliche Wissenschaft geheilt worden sind und das Studium dieser Lehre systematisch betreiben, Praktiker derselben. Sie haben erkannt, daß sie das Gelehrte werktätig beweisen müssen, wenn sie sich auch nicht alle der beruflichen Ausübung der Christlichen Wissenschaft widmen. Es vergeht kein Tag, ohne daß sich ihnen Gelegenheit böte, für sich selbst und wohl auch für andre zu beweisen, was sie in bezug auf Gott und den Menschen als wahr erkannt haben. Je klarer sich der Praktiker seiner hohen Aufgabe bewußt ist, und je gewissenhafter er einen Teil des Tages dem Studium der Christlichen Wissenschaft, der Betrachtung geistiger Dinge und dem Lesen der einschlägigen Literatur widmet, desto wirksamer ist seine Arbeit für andre und desto entschiedener ist sein eigner Fortschritt in sittlicher und geistiger Beziehung. Viele begehen den großen Fehler, ihre ganze Zeit von andern in Beschlag nehmen zu lassen, und verlieren dabei die Dinge aus den Augen, deren sie selber bedürfen. Die eignen Waffen mögen sehr gut sein; wenn man sie aber nicht für sich selber gebraucht, so kommt schließlich die Zeit, da es sich offen zeigt, daß Arbeit, die notwendig war, nicht getan worden ist.
Hier mag nun der eine oder der andre den Einwand erheben, daß er doch durch seine Arbeit für andre sich selber helfe. Das ist schon richtig; aber man muß auch bedenken, daß man andern erst in dem Maße helfen kann wie man lernt, sich selber zu helfen. Die Zeit ist noch nicht gekommen, da ein Schüler der Christlichen Wissenschaft des systematischen Studiums und der konstruktiven Arbeit für sich selber entbehren kann. Viele seiner Mißerfolge dürften darauf zurückzuführen sein, daß er den stetig wachsenden Forderungen der Wahrheit und Liebe nicht nachgekommen ist. Dies gelingt ihm nur durch ein reges, nieversagendes Interesse für geistige Dinge, sowie dadurch, daß er nie eine Gelegenheit, die das geistige Wachstum zu fördern verspricht, unbenutzt vorübergehen läßt. Früher oder später wird man erkennen lernen müssen, daß jeder sich selbst der Nächste ist, und daß „welchem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen.”
Der Mensch, der durch die Christliche Wissenschaft Heilung erfahren hat, oft nachdem er von den Ärzten als unheilbar aufgegeben worden ist, steht vor einer offenen Tür und sieht den wahren Weg vor sich, der zur Gesundheit und zum Glück, ja ins Himmelreich führt. Wenn ihm nur an den Broten und Fischen gelegen ist, d. h. wenn er nichts weiter erstrebt als Befreiung von seinen Leiden, und dabei glaubt, es werde von ihm nur erwartet, daß er die ihm zuteilgewordene Heilung anerkenne, so wendet er sich von der offenen Tür ab — läßt die gebotene Gelegenheit unbenutzt — und fährt fort in seinem Traum, daß die Materie Lust und Schmerz empfinden könne.
Die Hauptarbeit des christlich-wissenschaftlichen Praktikers besteht somit darin, die rechte Beziehung zu Gott, dem göttlichen Prinzip, zu pflegen. Dies erfordert, daß er beständig nach dem Balken im eignen Auge suche, statt nach dem Balken im Auge seines Nachbars. Nur so kann er sich von dem alten „Sauerteig der Bosheit und Schalkheit” reinigen und sein Bewußtsein zu einem Durchscheinbild für die Wahrheit machen. Hierzu ist Studium und systematische Geistestätigkeit erforderlich. Der Hauptzweck der Arbeit des Praktikers ist, die Menschheit mit Gott und Seiner erlösenden und gesundheitbringenden Kraft vertraut zu machen. Dieses Wirken erzeugt beim Patienten notwendigerweise physische Heilung, ist aber nur eine Begleiterscheinung jener moralischen und geistigen Heilung, die das menschliche Bewußtsein zur Erkenntnis der Christus-Idee emporhebt — zum geistigen Verständnis Gottes.
Der Praktiker lehrt also Dinge, die auf die „Tiefen der Gottheit” Bezug haben. Er arbeitet nicht eines andern Erlösung für ihn aus, sondern zeigt ihm die offene Tür, die ihn Gottes Willigkeit und Fähigkeit, „immerdar” zu erlösen, klar erkennen läßt. Wer weise genug ist, um durch diese Tür zu gehen, tut den zweiten Schritt, der himmelwärts führt; er beginnt sein Bewußtsein über die zahllosen Vorstellungen des sterblichen Gemüts zu erheben. Hierzu bedarf es hauptsächlich seines eignen Strebens nach einem dem geistigen Gesetz entsprechenden Denken und Leben. Der erste Schritt, das Erheben des Denkens über die Materie, wird hauptsächlich durch das Verständnis des Praktikers bewirkt und äußert sich als physische Heilung.
Ist der Patient für solche Hilfe dankbar, so wird er nicht ruhen, bis er selber den zweiten sowie die nachfolgenden Schritte getan hat, in dem ernsten Bestreben, sein Seelenheil zu bewirken. Wenn ihm der Weg einmal klar geworden ist, dann erkennt er auch zugleich, daß er seine Arbeit selbst tun muß und nur unter besonderen Umständen der Neigung nachgeben darf, diese Arbeit einem Praktiker aufzutragen. Die Gewohnheit, bei der geringsten Veranlassung zu einem Praktiker zu laufen, ist sicherlich eher geeignet, den Fortschritt des einzelnen und unsrer Sache zu verzögern als ihn zu fördern.
Die beste Arbeit, die der Praktiker zu leisten vermag, besteht darin, dem Patienten zu zeigen, wie er die seine tun kann. Gewiß gibt es außergewöhnliche Fälle; doch ist es für alle, die sich Christliche Wissenschafter nennen, überaus wichtig, zu erkennen, daß der Glaube an die Notwendigkeit jeglichen vermittelnden Dienstes überwunden werden muß. Gott ist der einzige Erlöser des Menschen, und je eher die Sterblichen die hohe Bedeutung dieser Tatsache erkennen, desto eher werden sie lernen, sich Ihm jederzeit als der einzigen Macht, als der allein wirkenden Kraft des Weltalls zuzuwenden. Dann werden sie auch persönlichen Einflüssen nicht mehr unterworfen sein.
Christus Jesus ist unser großes Vorbild. Er tat keines Menschen Arbeit für ihn, sondern wies den Weg aus aller menschlichen Disharmonie in die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes.” Sache aller ist es, auf dem geistig vorgezeigten Wege in seine Fußtapfen zu treten, zu denken wie er dachte und ihren Glauben durch Werke zu beweisen. Der Praktiker arbeitet nicht lediglich, um physische Heilung zu bewirken. Er läßt des Menschen Beziehung zu Gott keinen Augenblick aus den Augen, und im Verhältnis zu seinem Verständnis dieser Beziehung spiegelt er sie mental zum Heil seines Patienten wieder. Wenn letzterer für diese geistige Idee empfänglich ist und willig und mit Freuden ihren Forderungen nachkommt, wird er Heilung an sich erfahren.
Dies ist zwar nur ein Anfang auf dem Wege von der Materie zum Geist, aber ein richtiger Anfang, ein Anfang, den alle früher oder später machen müssen. Sache des Praktikers ist es, darauf zu sehen, daß dieser Schritt richtig getan werde. Der Praktiker sollte einem Menschen nicht über ein physisches Übel hinweghelfen, ohne zugleich sein Denken auf höhere Ziele zu lenken. Der alleinige Zweck des Beistandes ist geistige Erneuerung oder Umgestaltung. Diese muß man bei der christlich-wissenschaftlichen Praxis stets vor Augen haben. Die natürlichen und darum gesetzmäßigen Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Verfahrungsweise werden von der Welt als physische Heilungen angesehen und als solche anerkannt. Allerdings können physische Heilungen durch falsche mentale Methoden bewirkt werden; solche Ergebnisse dürfen aber den christlich-wissenschaftlichen Heilungen nicht gleichgestellt werden, denn diese sind immer nur Begleiterscheinungen der geistigen Erweckung und des sittlichen Fortschritts.
Die Norm des ausübenden Vertreters der Christlichen Wissenschaft ist eine sehr hohe. Es ist ihm daher nicht immer möglich, den selbstsüchtigen Forderungen derer nachzukommen, die wohl von Schmerzen befreit sein möchten, der sittlichen Besserung aber abgeneigt sind. Ferner gibt es Menschen, die aus Unkenntnis glauben, der Christliche Wissenschafter könne ihnen zur Erreichung eines selbstsüchtigen Zwecks in geschäftlicher Beziehung verhelfen. Es ist Sache des Praktikers, in allen Fällen, wo die Sucht nach materiellem Gewinn im Denken vorherrscht, diese irrtümliche Voraussetzung zu erkennen und den Betreffenden zu erklären, daß die Wirkung des christlich-wissenschaftlichen Beistandes allein darin besteht, das menschliche Denken mit dem göttlichen Gesetz in Einklang zu bringen. Das Ergebnis bleibt Gott überlassen. Wenn die selbstsüchtigen menschlichen Wünsche zum Schweigen gebracht werden und die nötige Bereitwilligkeit vorhanden ist, Gottes Willen walten zu lassen, dann kann geholfen werden.
Der Christliche Wissenschafter versucht nicht, Geld oder Automobile für andre zu „demonstrieren.” Solche mentale Bestrebungen sind in der Christlichen Wissenschaft etwas Abnormes. Die Christliche Wissenschaft erzeugt bei den Menschen Aufrichtigkeit, Furchtlosigkeit, Ehrlichkeit, Zuvorkommenheit, Barmherzigkeit, Mitgefühl und Selbstlosigkeit, und wenn man diese Eigenschaften zum Ausdruck bringt, so folgt sicherlich Harmonie in physischer, mentaler und moralischer Hinsicht. Dem einzelnen wird dann schon die rechte Art gewiesen werden, wie er Geld oder ein Automobil bekommen kann, insoweit er des einen oder des andern wirklich bedarf. Man muß unterscheiden lernen zwischen bloßem menschlichen Begehren und wahrem menschlichen Bedürfnis. Die Sterblichen wünschen sich vieles, was sie nicht wirklich nötig haben. Wer sich aber in Demut der Führung des göttlichen Gemüts hingibt, wird zwischen vermeintlichem Mangel und wirklichen Bedürfnissen zu unterscheiden wissen.
Der wahre Praktiker der Christlichen Wissenschaft, der Gott den Beistand erteilen läßt, gereicht jedem Gemeinwesen, in welchem er wirkt, zum Segen. Er darf die moralische Unterstützung aller guten Bürger erwarten, selbst wenn diesen das volle Verständnis für die Christliche Wissenschaft oder ihre Ausübung noch fehlt. Als geistiger Beurteiler von Weltfragen, auf dem Felsen geistiger Wahrheit stehend, strahlt er Gesundheit und Glück aus und bildet hierdurch sowie durch sein besonnenes Wesen einen Schutz für seine Umgebung. Seine Arbeit ist nicht selbstsüchtiger Art. Wenn dem so wäre, so würde seine Laufbahn nur von kurzer Dauer sein. Er ist stets bescheiden. Er maßt sich keine Macht an und treibt weder mit sich noch mit andern Personenkult. Er ist wohlwollend gegen alle Menschen, kümmert sich um seine eignen Angelegenheiten und gesteht andern alle Rechte zu, die er für sich selbst beansprucht.
Der christlich-wissenschaftliche Praktiker sollte einen vorbildlichen Charakter haben, frei von üblen Gewohnheiten sein und sich keinen leichtfertigen Vergnügungen hingeben. Er muß den bestmöglichen Gebrauch von seiner Zeit machen. Er mag eine Sache bisweilen nicht richtig beurteilen, sieht aber in der Regel seinen Fehler bald ein und ist dankbar für einen freundlichen Verweis. Er trachtet danach, sich zu höherem Denken und Handeln zu erheben und vergißt die Dinge, die dahinten sind. Er liest nur gute Bücher, in erster Linie die Bibel und Wissenschaft und Gesundheit. Er interessiert sich für keine Form des Hypnotismus oder Mesmerismus, sondern erhebt sein Denken über den Wirkungskreis aller listigen mentalen Einflüsse. Er denkt Gutes, sucht in andern nur Gutes, spricht über Gutes und glaubt an das Gute, auf Grund seiner Erkenntnis, daß das Gute allein wirklich ist und ewig besteht. Kurz, der Praktiker strebt danach, ein musterhafter Christ zu sein. Seine Stellung vor der Welt macht das notwendig; sie fordert, daß er das Beste im Menschen zum Ausdruck bringe, nicht das Mittelmäßige oder Geringe. Seine Arbeitsstunden sind lang, und er verdient sein bescheidenes Einkommen auf ehrliche Weise. Er spendet reichlich für die Sache der Wahrheit, obschon seine Wohltätigkeitswerke nur selten öffentlich bekannt werden. Er bewirbt sich nie um Patienten, weder privatim noch öffentlich, sondern läßt seine Werke für sich reden. Er ist in jeder Hinsicht ein Menschenfreund und sucht der Menschheit auf die einzig richtige Weise zu helfen, die der Welt je geoffenbart worden ist, nämlich durch die Aufrichtung des Reiches Christi in den Herzen der Menschen. Einem solchen Menschen, einem Menschen der, wie der Psalmist sagt, „Lust [hat] zum Gesetz des Herrn und redet von seinem Gesetz Tag und Nacht,” und der die Kraft dieses Gesetzes vermöge seines durch die Christliche Wissenschaft gewonnenen Verständnisses beweist, dem gebührt sicherlich Erfolg. In bezug hierauf haben wir die Versicherung, daß „was er macht, das gerät wohl,” und zwar, weil Gott „kennet den Weg des Gerechten.”
Sollte diesem getreuen Arbeiter im Weinberge des Herrn nicht die Hand christlicher Bruderliebe geboten werden? Sollten ihm die Gesetze des Landes nicht gestatten, seinen Glauben an Gott durch das Heilen von Kranken und das Bekehren von Sündern zu beweisen? Hat er keine gottverliehenen Rechte, die die Vertreter materieller Heilmethoden achten müssen? Ist er in unserm aufgeklärten Zeitalter nicht zu Leben, Freiheit und Glück berechtigt? Wird das Gebot der Nächstenliebe jemals aufgehoben werden? Sollen rechtes Denken und rechtes Leben in die dunkeln Zeiten verwiesen werden, damit Gesetzlosigkeit, „des Menschen Unmenschlichkeit gegen den Menschen” herrsche? Wäre das ein Beweis des Glaubens an Gott und die Macht Seines Christus? Der ausgesprochene Christ, der Reformer, der Gesetzgeber, der Menschenfreund möge sich diese Fragen beantworten, und dabei bedenken, daß er einst jeden unfreundlichen, unbarmherzigen Gedanken zu verantworten hat, sei derselbe aus Unwissenheit oder mit Absicht zum Ausdruck gekommen.
Sämann, geh in Gottes Namen
Und bestell’ dein Ackerfeld;
Streu’ auf Hoffnung deinen Samen
Und vertrau’ dem Herrn der Welt;
Warte still auf seinen Segen,
Bitt’ um Sonnenschein und Regen,
Daß dein Feld am Erntetag
Goldne Garben bringen mag.