Wenn wir in Betracht ziehen, wie Christus Jesus die persönliche Huldigung eines Jünglings zurückwies, als dieser ihn „guter Meister” nannte, so muß es uns klar sein, daß des Meisters Frage an Petrus: „Hast du mich lieb?” nicht in der Absicht gestellt wurde, dem Jünger einen Ausdruck persönlicher Verehrung zu entlocken. Um die tiefe Bedeutung dieser Frage zu erfassen, muß man sich über den Sinn klar zu werden suchen, in dem Jesus das Wörtchen „mich” anwendete. Ist es nicht, als ob er gefragt hätte: Liebst du die Christus-Idee, die reine, geistige Auffassung vom Menschen, das Bild und Gleichnis Gottes, mehr als alles andre?
Stellte nicht Jesus durch diese Frage den etwas unbeständigen Jünger auf die Probe, der den Meister verleugnet hatte und später zu seinen Netzen zurückkehrte? Der Meister hatte wohl die Absicht, die großen geistigen Fähigkeiten, die in Petrus schlummerten, zu wecken und ihn zu wahrer Selbsterkenntnis zu bringen, damit er die Christus-Frage stets richtig beantworten könnte. Und hören nicht auch wir heutzutage diese gleiche Stimme der Wahrheit, die uns zuflüstert: „Hast du mich lieber, denn mich diese haben?” wenn wir irgendeinem Irrtum zaudernd gegenüberstehen, oder wenn wir in Versuchung kommen, falschen Einflüsterungen Gehör zu schenken? Ist unsre Antwort auf diese Frage zu jeder Zeit bejahend?
In der Christlichen Wissenschaft lernen wir, daß Gott nicht in einem weitentfernten Himmel thront, von wo aus Er die Menschheit auffordert, Ihn mit dem Munde zu loben, sondern daß Er als das stets gegenwärtige Prinzip der Vollkommenheit uns zu der Erkenntnis und Demonstration der wahren Selbstheit des Menschen als im Geist und nicht in der Materie bestehend führt, und daß wir diese wahre Individualität lieben müssen und mit keiner geringeren Norm zufrieden sein dürfen. Dies bedingt das Ablegen des „alten Menschen” und das Anziehen des „neuen.” Der beste Beweis, daß man das Gute aufrichtig liebt, besteht darin, daß man dem Rufe des Guten zu jeder Zeit willig Folge leistet und vor dem Gegenruf des Bösen, das uns mit seinem Sirenengesang stets verführen möchte, allezeit auf der Hut ist. In Wirklichkeit können wir nur auf den Ruf des Guten antworten, denn außer dem göttlichen Gemüt gibt es nichts, was ruft, und außer dem wahren Kind Gottes nichts, was den Ruf erwidert.
Jesus legte die scheinbare Anziehungskraft der materiellen Güter und Bestrebungen bloß, als er in dem Gleichnis vom großen Abendmahl das Fest der geistigen Segnungen beschrieb und die vom fleischlichen Sinn vorgebrachten Entschuldigungen auf Grund des Ankaufs eines Ackers, der „fünf Joch Ochsen” usw. nannte. Solange jedoch die Menschen nicht ihr Herz an materiellen Besitz hängen und dadurch ihre geistigen Gelegenheiten verpassen, oder ihr Vorrecht zu höheren Segnungen mit der Ausflucht beiseite schieben: „Ich bitte dich, entschuldige mich,” solange besteht kein Grund, warum solche oder ähnliche Güter ihren Fortschritt hindern sollten. In dem Maße, wie sich unsre Wünsche veredeln, führt das göttliche Gemüt, in dem sie ihren Ursprung haben, ihre Erfüllung herbei.
Jesus stellte die Aufrichtigkeit des Jüngers weiter auf die Probe durch die ernste Ermahnung: „Weide meine Schafe!” und „Weide meine Lämmer!” Wohl beteuerte Petrus, daß er den Meister liebe; aber Jesus verlangte Tat-beweise. Er ermahnte seine Jünger, so zu lieben, wie er sie liebte. Wie nun liebte sie Jesus? Er sprach wenig und vollbrachte viel. Er spiegelte die göttliche Liebe dadurch wieder, daß er die Kranken und Sünder heilte, die Bekümmerten, die Empfänglichen und Demütigen lehrte und die Toten auferweckte. Gibt es noch eine andre Art zu lieben? Jesus wollte dem Petrus zum Bewußtsein bringen, wie notwendig es sei, sein Leben gänzlich dem Christus-Werk zu widmen, wie er es betrieb.
Jesu Wiederspiegelung der Liebe war so klar, so unwiderstehlich, daß sie den Irrsinnigen aus den düstern Gräbern lockte und ihn geistig und körperlich frei machte. In dieser Kundwerdung des Christus fand der Mann sich selber. Auch dem Weib am Jakobsbrunnen offenbarte Jesus ihre wahre Selbstheit, und die frohe Botschaft verbreitete sich, so daß die Leute aus der Stadt herbeikamen, um ihn zu hören. Wenn wir dem Ruf der Wahrheit folgen, lösen sich unsre Bande; wir sind frei, und unser Hungern und Dürsten nach Gerechtigkeit ist gestillt. Im Herzen eines jeden Menschen, wie tief er auch gefallen sei, schlummert ein Keim des Guten, ein Sehnen nach dem Guten. Um aufrichtig zu sein, muß dieses Sehnen durch die Tat zum Ausdruck kommen, denn sonst kann es weder für uns noch für andre etwas vollbringen. Sodann dürfen wir nie vergessen, daß, solange wir Irrtum zum Ausdruck bringen, wir das Gute nicht wahrhaft lieben.
Jesus gibt uns den Grundton der wahren und werktätigen Liebe, wenn er sagt: „Wer meine Gebote hat und hält sie, der ist’s, der mich liebet.” Die gleiche Gewissenhaftigkeit, die Jesus bekundete, wird von uns verlangt. Durch die weisen Lehren und die Schönheit der Christlichen Wissenschaft können wir das Göttliche so vollständig widerspiegeln lernen, daß es sowohl in uns selber als in unserm Nächsten das göttliche Gute zur Entfaltung bringt, denn Güte kommt dem einen Guten ebenso sicher entgegen, wie Liebe dem Ruf der Liebe entgegenkommt. So lernen wir erkennen, wie nahe verwandt doch alles Gute ist, wie es uns alle vereinigt und uns Gott, unserm gemeinsamen Schöpfer, näher bringt.
Welch herrliche Gelegenheiten gehen uns verloren, wenn wir dem Ruf, das Christus-Ideal wiederzuspiegeln, nicht Folge leisten und es nicht mehr als alle irdischen Güter lieben! Wäre das reumütige Weib schon vor jenem Vorfall, als sie trotz des Hohnes der Pharisäer sich dem Meister zu Füßen warf und durch seine Erkenntnis des wahren Wesens des Menschen augenblicklich umgestaltet wurde, mit dem wahren Christus-Gedanken in Berührung gekommen, so hätte sie ohne Zweifel schon früher Erlösung gefunden. Ist uns jener Vorfall nicht eine Ermahnung, daß wir unsre Denkweise läutern müssen, damit Wahrheit und Liebe freien Zutritt zu unserm Bewußtsein habe und wir dadurch imstande sein mögen, jeden verlorenen Sohn in das Haus seines Vaters zurückzuführen? Wir verlieren durchaus nichts, sondern können im Gegenteil nur gewinnen, wenn wir mit aller Macht an unserm höchsten Begriff von Gott und dem Menschen festhalten und uns durch den Spott der Welt nicht von unserm Streben nach dem Christus-Ideal abbringen lassen.
Um solches tun zu können, müssen wir die Vorstellung, als ob die Materie Lust oder Schmerz empfinden könne, fahren lassen. Glückseligkeit besteht in der Erkenntnis, daß unser wahres Wesen rein geistig ist, ohne das geringste Element von Zwietracht und Kampf. In dem Maße, wie wir diese wissenschaftliche Tatsache erkennen, verschwindet alle durch den Glauben an ein zusammengesetztes oder zweiteiliges Wesen erzeugte Disharmonie, und zwar ebenso sicher, wie sich damals der Sturm legte, als Christus Jesus gebot: „Schweig und verstumme!” Und die gleiche „große Stille” zieht dann in unsre Herzen ein.
Die Sterblichen sind in ihrem Streben nach Glück ganz verkehrt verfahren, indem sie des Menschen wahres Wesen umzukehren suchten, sich an materielle Güter anklammerten, anstatt die Substanz, die Eigenschaften des Geistes, widerzuspiegeln. So sind sie in die Sackgasse der Selbstsucht geraten und haben den Weg des wahren Glücks verfehlt. Aber dieser Weg steht immer noch jedem verlorenen Sohn offen — jedem Irregeführten, der seine Schritte zurücklenkt. Wenn wir in wissenschaftlicher Weise erkennen, daß das Wesen des Menschen keine selbstsüchtigen oder materiellen Triebe enthält, weil keine solchen in Gott bestehen, dann werden wir nach und nach aufhören, der Selbstsucht, die so viel verspricht und so wenig hält, Macht einzuräumen oder uns von ihr irreführen zu lassen.
Wenn unser tägliches Leben eine bejahende Antwort auf die Christus-Frage ist: „Hast du mich lieb?” dann sind wir imstande, mit Erfolg an dem Werk der Erneuerung des Menschengeschlechts zu arbeiten, so daß des Menschen geistige Herrschaft über jeden Anspruch der materiellen Sinne zur Geltung kommen kann. Wir müssen einsehen lernen, wie sehr wir selbst und die ganze Welt der Erneuerung des Geistes bedürfen, wir müssen die ewigen Wahrheiten der Schöpfung betrachten, ihre Harmonie und Anwendbarkeit. Dann werden wir, wie Petrus später tat, dem Christus-Ruf freudig Folge leisten.
Das Beste bei allem ist Ordnung.—