Wenn wir in unsrer täglichen Erfahrung oft von Zweifel und Furcht befallen werden und allerhand Schwierigkeiten und Fehlschlägen gegenüberstehen, ohne daß sich ein Weg zeigt, diese Zustände zu berichtigen, so daß alles in Zweifel gehüllt scheint; wenn Unglück und Leiden so wahr erscheinen, und das so sehr erwünschte Gute überall scheinbar machtlos ist, so wundern wir uns manchmal, welchen Zweck ein Dasein hat, das der Gewißheit des Guten entbehrt. Wir leben in einem praktischen Zeitalter. Theorien und Dinge werden nach ihrer Nützlichkeit eingeschätzt, nach dem Maße, in dem sie uns von den Ungewißheiten und Unannehmlichkeiten, denen wir auf der Suche nach dem Guten begegnen, befreien helfen. Soweit scheinen wir erst einen Schimmer der großen Wahrheit erblickt zu haben, daß das Ideale stets das Praktische ist, wenn sein Prinzip verstanden und in intelligenter Weise angewendet wird. In Anbetracht des Umstandes, daß das Ideale, wie es in der Bergpredigt zum Ausdruck kommt, im Geschäftsleben und in der Politik von jeher als unpraktisch beiseite geschoben wurde, mag ein solcher Gesichtspunkt überraschend erscheinen.
Die Welt gibt gerne zu, daß Ehrlichkeit im Streben und Handeln ideal ist; aber daß sich diese Eigenschaft in industriellen, kommerziellen, sozialen und politischen Beziehungen als praktisch erweisen, will sie noch nicht einräumen. In gleicher Weise gesteht die Welt gerne zu, daß ein reines Leben, gute Gewohnheiten, edle Beweggründe und Wohltätigkeit ideal sind; aber sie glaubt noch nicht, daß solche Zustände in der menschlichen Erfahrung aufrecht erhalten werden können, noch, daß alle unsre Schwierigkeiten dem Umstand zuzuschreiben sind, daß wir die Scheidelinie zwischen dem Wahren und Unwahren noch nicht richtig erkannt haben. Die Christliche Wissenschaft macht diese wirksame Wahrheit klar. Sie beweist, daß der wahre Weg der einzig richtige Weg, der einzig praktische Weg ist, etwas zu vollbringen. Durch diese Offenbarung, die uns das Wahre vom Falschen, das Wirkliche vom Scheinbaren so klar unterscheiden läßt, wird die Menschheit noch unendlichen Segen empfangen.
Die Christliche Wissenschaft behauptet, daß trotz all der veränderlichen und unsicheren Zustände um uns her die ewigen Gesetze Gottes, des Guten, bestehen, in welchem wir „leben, weben und sind,” und daß alle göttlichen Ideen mit dem ungeteilten Gewand der Folgerichtigkeit angetan sind und die unendliche Einheit des Guten bilden. Die geistigen Gesetze sind wirklich; sie sind dieselben „gestern und heute, und ... auch in Ewigkeit;” deshalb sind sie die einzigen Gesetze, die in der Besserung der im täglichen Leben herrschenden Zustände angewendet werden können. „Verständnis ist die Scheidelinie zwischen dem Wirklichen und Unwirklichen” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 505), und wenn wir das Ideale praktisch anwenden wollen, so müssen wir erst diese „Scheidelinie” erkennen lernen.
Der Schüler im Rechnen sieht ein, daß in der Mathematik das Ideale das Praktische sein muß. Es ist absolut notwendig, daß er diese Tatsache erkenne, um die Mathematik zur Lösung menschlicher Probleme wirksam zu machen. Alsdann wendet er das Grundgesetz oder die Grundregel an, die für ein gegebenes Problem in Betracht kommt, und wenn er sie versteht und befolgt, so wird das Problem gelöst, und der praktische Wert der Mathematik ist geoffenbart. Lange bevor „die Morgensterne miteinander lobeten und jauchzeten alle Kinder Gottes,” war es eine feststehende Tatsache, daß zweimal zwei vier ist, und es ist auch heute noch so. Wann wird es aufhören, wahr zu sein? Niemals. Dieses Beispiel dürfte uns der Erkenntnis näher bringen, daß das Wirkliche unveränderlich und daher das Ideale ist — die wahre Substanz.
Die Christliche Wissenschaft bestimmt Substanz als „das, was ewig und der Disharmonie und des Verfalls unfähig ist” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 468). Dies ist es, was wir alle erhoffen; es ist das wahrhaft Ideale. Dinge, die beständig dem Zufall und dem Wechsel unterworfen und der „Disharmonie und des Verfalls” fähig sind, die heute bestehen und morgen vergehen, sind sicherlich nicht ideal und können daher nicht wirklich sein. Und doch scheinen uns alle die unsicheren Dinge um uns her, die wir durchaus nicht für ideal halten, sehr wahr zu sein.
All dieses macht uns die Notwendigkeit klar, die „Scheidelinie” zu erkennen zwischen dem Wahren und dem Falschen, dem Wirklichen und dem Unwirklichen, dem Idealen und dem Unvollkommenen, dem Praktischen und dem Unpraktischen. Auf Seite 419 von Wissenschaft und Gesundheit sagt Mrs. Eddy: „Allein Gott und Seine Ideen [sind] wirklich und harmonisch.” Das scheint vernünftig und greifbar zu sein, etwas, was uns beim Suchen nach der „Scheidelinie” zwischen dem Wahren und Unwahren behilflich ist. Wir sehen ein, daß Gott, die unendliche Intelligenz, alles Wirkliche in sich schließt, daß Er und Seine Schöpfung (Ideen) alle Substanz, das Harmonische und Ideale umfassen.
Wie bringen wir nun diese anerkannte Tatsache im täglichen Leben praktisch in Anwendung? Wie wir aus der Behandlung eines mathematischen Problems ersehen, müssen wir, um uns irgendeine Idee zunutze zu machen, klar erkennen, wie wir sie auf unsre Notdurft anzuwenden haben. Mit dem Ergebnis haben wir nichts zu tun, wohl aber mit den Regeln, dem Prinzip oder dem Gesetz, das den Fall regiert. Wird diesem Gesetz entsprechend gehandelt, so folgt das richtige Ergebnis in ganz natürlicher Weise; und dieses Ergebnis ist das Ideale, das mit Genauigkeit und in überaus praktischer Weise erlangt worden ist. Wir müssen also, um die Schwierigkeiten des täglichen Lebens zu überwinden, uns an Gott und Seine Idee halten. Dabei haben wir Gott als die endgültige Autorität zu betrachten, die wir verstehen und der wir getreulich gehorchen müssen. Das Verständnis des geistigen Gesetzes und dessen Anwendung auf alle uns begegnenden Probleme oder Schwierigkeiten muß, wenn ebenso wissenschaftlich verfahren wird wie bei der Lösung eines mathematischen Problems, ebenso genaue und gleich befriedigende Resultate hervorbringen. Wir müssen jedoch unterscheiden lernen zwischen einer intelligenten Anwendung des göttlichen Prinzips und den willkürlichen, nicht auf dem geistigen Gesetz beruhenden und daher nicht wissenschaftlichen Bemühungen, recht zu tun, wie sie im heutigen geschäftlichen, sozialen, politischen und religiösen Leben vorherrschen.
Unser Leben stellt ein fortwährendes Problem dar. Wenn man dieses Problem richtig löst, wird das Leben zu einem fortlaufenden Sieg — mit andern Worten, es ist ideal. Fragt jemand: Wie bringe ich das fertig? so antworten wir mit Jeremia, der im Namen Jehovas sagt: „So ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen.”
Es wäre in der Mathematik überaus töricht gehandelt, wollte man suchen, zu einem richtigen Ergebnis zu gelangen, ohne nach der Grundregel des Problems zu forschen und sie anzuwenden. Ebenso klar ist, daß es bei unserm Streben nach dem Idealen klug gehandelt ist, wenn wir nach der Quelle des Idealen trachten, nämlich Gott, dem göttlichen Prinzip, von welchem aller wahre Segen kommt. Gerade in bezug auf die Fragen des täglichen Lebens sagte Jesus: „Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden? ... Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.” Ferner: „Sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.”
Im Einklang mit dieser Lehre unsres Meisters weist uns die Christliche Wissenschaft den Weg zur Unsterblichkeit, dem höchsten Ideal, und zwar durch das Verständnis und die richtige Anwendung des Prinzips und der Regeln der Wissenschaft des Seins. Gott richtig erkennen ist ewiges Leben. Hierin besteht unser Problem, und dessen Ausarbeitung in der Christlichen Wissenschaft ist ein erhabenes Unternehmen, ein Unternehmen, das mit Erfolg gekrönt wird.
Des Lasters Bahn ist anfangs zwar
Ein breiter Weg durch Auen;
Allein sein Fortgang wird Gefahr,
Sein Ende Nacht und Grauen.
Der Tugend Pfad ist anfangs steil,
Läßt oft nur Mühe blicken;
Doch weiter fort führt er zum Heil
Und endlich zum Entzücken.