Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast. Doch ich weiß, daß du mich allezeit hörest.” Wenn wir diesen Ausspruch Jesu im Lichte der Christlichen Wissenschaft betrachten und ihn verstehen, finden wir, daß er ein wunderbar klares Verständnis der echten, wirksamen Dankbarkeit in sich birgt, nämlich der Dankbarkeit, die da heilt. Erst als er seine tiefe Dankbarkeit für das geistige Verständnis, das wissenschaftliche Erkennen der Allheit des Lebens und der Nichtigkeit des Todes gefühlt und verkündet hatte, bat er um die Erfüllung seines Gebetes. Für den Meister der Metaphysik hatte das Zeugnis der materiellen Sinne keine Geltung, für ihn war Lazarus nicht tot. Er wußte, daß seines Freundes wahre Selbstheit nicht zerstört werden konnte, obschon dessen Schwester den Umstand beklagte, daß er schon „vier Tage gelegen.”
Unser Meister war stets bemüht, seine Lehren dem menschlichen Bewußtsein auf die wirksamste Weise vorzuführen, und aus des Lieblingsjüngers Bericht über obiges Ereignis, welches an Erhabenheit wohl nur einem einzigen von Jesu metaphysischen Werken nachsteht, ist ersichtlich, wie sorgfältig er darüber nachdachte, wie man dem menschlichen Bewußtsein am besten die Unwirklichkeit des Todes verständlich machen kann. Trotz der Nachricht von Lazarus Krankheit machte er sich erst nach zwei Tagen auf den Weg nach Bethanien und bewies dadurch seine Ruhe und Geduld, sein unbegrenztes Gottvertrauen. Als er dort ankam, hatte Lazarus „schon vier Tage im Grabe gelegen.” Ob vier Tage oder vier Jahre, was hatte das zu bedeuten? Seines Freundes wahre Wesenheit als ein Kind Gottes war trotzdem nicht vernichtet; er blieb trotzdem die vollkommene und deshalb unzerstörbare Idee des unendlichen Gemüts. Jesus fürchtete nicht, daß die Zwischenzeit die Wirksamkeit seiner immer gegenwärtigen heilenden Denkweise beeinflussen könnte. Er brauchte nur das Wort zu sprechen, einfach die sterbliche Annahme, wie sie durch Patienten und Zuschauer zum Ausdruck gebracht wurde, durch das Verständnis des immer gegenwärtigen Lebens zu verdrängen. Er wußte, daß, je länger er dem sterblichen Gemüt Zeit gab, den Tod des Lazarus als absolute Tatsache zu betrachten, desto nachdrücklicher der Wahrheitsbeweis wirken würde. Daß der Tote seinem Befehl gehorchen und auferstehen werde, war für ihn außer Frage. Er sagte Dank zum Voraus; seine Dankbarkeit war wissenschaftlich und — Lazarus „kam heraus.”
„Würdige ich alles, was ich besitze, und die Verhältnisse, in denen ich lebe, als wirkliche Wohltaten?” Diese Frage, d. h. eine ehrliche, schonungslose Selbstprüfung, ob man wahrhaftig dankbar sei, ist wohl das wirksamste Mittel, das geistige Wachstum zu fördern. Eine solche unparteiische Prüfung des eignen Ich bedingt eine gründliche metaphysische Analyse unsrer täglichen Gedanken und Handlungen und trägt viel dazu bei, die Schlacken der sterblichen Annahme vom Gold des geistigen Verständnisses zu scheiden. Das sterbliche Gemüt ist nur allzusehr geneigt, die Wohltaten, die dieses Verständnis mit sich bringt, zu vergessen. Wer unter uns hat nicht an einem Problem gearbeitet und dann das durch die Lösung erlangte Gute als ganz natürlich hingenommen, anstatt Gott, dem Quell alles Guten, Dank zu sagen? Keine andre Eigenschaft des fleischlichen Gemüts umnebelt so sehr unser geistiges Sehen und hält die heilende Wahrheit so beharrlich unserm Bewußtsein fern wie die Undankbarkeit. Ein öfteres Überdenken und Aufzählen der erhaltenen Wohltaten trägt viel dazu bei, Undankbarkeit in Dankbarkeit zu verwandeln.
Wenn wir in einer Mittwochabend-Versammlung den Dankesbezeugungen eines Mitbruders für erhaltene Wohltaten zuhören, so kommen wir leicht in Versuchung, mit einem Anflug von Entmutigung zu fragen: „Wann werde ich so weit fortgeschritten sein, um das göttliche Prinzip in gleichem Maße wie er sichtbarlich beweisen zu können?” In gewissem Sinne ist die Demonstration eines andern auch die unsrige. Ist unsre Notdurft dieselbe, so hilft uns Gott auf dieselbe Weise; ist sie verschieden, so wird ihr auf eine Art abgeholfen werden, die das höchste Gute mit sich bringt; ja in Wirklichkeit ist ihr schon abgeholfen. Wenn wir uns dies vergegenwärtigen, so haben wir auch die Antwort auf obige Frage. Bei Gott gibt es „kein Ansehen der Person.” „Ehe sie rufen, will Ich antworten,” schrieb Jesaja, denn er erkannte Gott als das göttliche Prinzip, er wußte, daß wir unser Verständnis von diesem Prinzip im täglichen Leben uns zunutze machen können — daß der Mensch als der Ausfluß Gottes in Wirklichkeit das Erbrecht auf alle Seine Schätze hat und einzig Seinem Wirken unterworfen ist.
In einem von Dankbarkeit erfüllten Herzen findet der Irrtum keinen Platz. Wie das Licht die Dunkelheit verdrängt, so werden Sünde und Krankheit von einem mit Dankbarkeit zu Gott erfüllten Bewußtsein fern gehalten. Fortwährende wissenschaftliche Dankbarkeit ist ein mentaler Zustand, der, wie kein andrer, die Erkenntnis der heilenden und läuternden Christus-Idee in sich birgt. Ein scheinbares Übel kann oft durch einen Rückblick auf genossene Wohltaten in nichts aufgelöst werden. Der wahre Christliche Wissenschafter geht aber noch weiter: er ist zum voraus dankbar. „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben,” lautet unsres Meisters Ermahnung an einen zweifelnden Thomas. In Wissenschaft und Gesundheit spricht unsre Führerin von „dem Duft der Dankbarkeit” (S. 367). Es gibt wohl keine schönere Versinnbildlichung. Ein Duft durchdringt einen Raum, einen Garten oder irgendeine Örtlichkeit und ist allen bemerkbar, die in sein Bereich kommen. In gleicher Weise segnet ein dankbarer Gedanke alle, die ihn in ihr Bewußtsein einlassen. Bei dankbaren Menschen findet man nie Gedanken der Armut, und umgekehrt verursacht und fördert nichts Beschränkung so sehr wie Undankbarkeit.
Unsre Dankbarkeit muß auch in kleinen Dingen und für kleine Dinge zum Ausdruck kommen. Laßt uns nicht versäumen, das Wort der Ermutigung zu sprechen, wo es nötig ist. Seien wir dankbar für das Heilungszeugnis, das uns geholfen hat, und übersehen wir nicht die kleinen Artigkeiten im Geschäftsleben. Sie mögen reiche Frucht tragen. Wir wollen nie zugeben, daß Undankbarkeit eine Eigenschaft des wahren Menschen ist, sondern wollen für das ideale Bewußtsein eintreten. Wir sind Dank schuldig für erneute Gesundheit, Freude, Wohlergehen, Kraft, und vor allem für das Verständnis des göttlichen Prinzips, dank dessen wir alle Probleme lösen und jede Schwierigkeit überwinden können. Wahre Dankbarkeit für die Christliche Wissenschaft erfüllt uns immer mit dem Verlangen nach höherem geistigen Verständnis und fördert so unser geistiges Wachstum. Sind wir von wahrer, wissenschaftlicher Dankbarkeit durchdrungen, dann werden wir stets bereit sein, das zu tun, was unserm Bruder in seinem Streben himmelwärts am dienlichsten ist, und dies wird uns gleichzeitig die Gewißheit geben, daß wir Gottes Willen erfüllen und somit an Seinem Werk tätig sind.