Wer durch die Christliche Wissenschaft von Sünde und Krankheit geheilt worden ist, fühlt vor allem das freudige Verlangen, auch andern den heilenden Trunk zuteil werden zu lassen, und durch dieses Ausströmen liebender Dankbarkeit wird eine Kette hergestellt, die die Welt in dem lebendigen Bewußtsein verbindet, daß Gott unser Vater-Mutter ist und die Menschen unsre Schwestern und Brüder sind. Mrs. Eddy sagt in „Miscellaneous Writings“ (S. 358): „Der Schüler, der durch Lehren heilt und durch Heilen lehrt, wird mit göttlichen Ehren sein Examen bestehen.” Der weise Schüler, der da weiß, daß das christlich-wissenschaftliche Heilen auf dem Verständnis und der Demonstration des göttlichen Prinzips beruht, fängt an, seine falschen Anschauungen von Gott aufzugeben und den Irrtum, der die Menschen in Banden der Sünde und Krankheit fesselt, zu berichtigen. Dadurch eröffnet sich ihm die wahre Idee Gottes und des Menschen Beziehung zu Ihm, ja die Wahrheit, die Frieden und Erlösung von Schmerzen und irdischem Weh bringt.
Es gibt kaum zwei Menschen, die dieselbe Vorstellung von Gott haben, aber beinahe ein jeder denkt sich Ihn als ein männliches Wesen, als Vater. Diese unvollständige Vorstellung von Ihm hat in der nach Liebe hungernden Welt viel Herzeleid und ungestilltes Sehnen verursacht. Die Christliche Wissenschaft lehrt uns, daß Gott beides ist, Vater und Mutter, daß Sein Wesen die weiblichen sowohl wie die männlichen Eigenschaften in sich schließt. In der Schöpfungsgeschichte heißt es: „Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, ... und schuf sie einen Mann und ein Weib.” Wie erstaunlich, daß die Menschen dieser Tatsache gegenüber so lange blind gewesen sind!
Es ist gewöhnlich nicht schwer, dem, der nach Heilung sucht, klar zu machen, daß der Mensch in seiner Eigenschaft als das Ebenbild Gottes der Ausdruck des ewigen Lebens ist — denn Gott ist Leben —, oder ihm zu erklären, wie makellos das göttliche Wesen sein muß. Wenn der Sünder willens ist, die Sünde aufzugeben, versteht er ohne große Mühe, daß Gott, das eine Gemüt, vollkommen, rein und gut ist; daß der Mensch als das Ebenbild Gottes sündlos und unverdorben sein muß und kein andres Gemüt haben kann als Gott; daß er von seinem Schöpfer ebensowenig getrennt werden kann wie ein Sonnenstrahl von der Sonne. Diese Erkenntnis hilft dem besonderen Bedürfnis eines jeden einzelnen ab.
Indem der Traurige, der Verlassene, der Beraubte und Einsame Hilfe und Erlösung von seinen Leiden sucht, geschieht es oft, daß der Christliche Wissenschafter, der das zerbrochene Herz verbinden möchte, mit seiner Erklärung: „Gott ist Liebe”, kein Gehör findet, denn die meisten Menschen haben die Hoffnung längst aufgegeben, vom himmlischen Vater auch nur so viel zu erhalten, wie ihre irdischen Eltern ihnen in selbstloser Weise zukommen ließen. Unsre Führerin spricht von Gott als dem „Geduldigen, Gütigen und Wahren”, dem „Einen, der ‚ganz lieblich‘ ist” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 3). Und doch ist kaum ein Mensch je so mißverstanden worden wie dieser Gott, selbst von denen, die da meinen Ihn zu verehren. In der falschen Auffassung von der Gottheit haben die stets wachsenden Schwierigkeiten des menschlichen Lebens ihren Ursprung.
Ein Geschäftsmann, mit dein die Schreiberin von Gott als der Liebe sprach, antwortete gleichgültig: „Ich weiß in Verbindung mit Gott von keiner Liebe. Im Geschäft, in der Hast des Verkehrs und dem pulsierenden Leben der Geschäftswelt haben wir es fortwährend mit dem Wettbewerb und der Habsucht zu tun. Da kämpfe ich, um meine Kinder versorgen zu können. Oftmals muß ich innehalten und wünschen, daß ich auch nur für einen Augenblick über diese unwürdigen Zustände hinaussehen könnte, um das Herz zu erfrischen und einmal wieder auszuruhen; aber noch nie habe ich gefühlt, daß ich für Gott mehr bedeute als das Vieh auf dem Felde. Alles, was ich von Liebe weiß, liegt in der Erinnerung aus meinen Kinderjahren, als ich im Bette lag und auf den Regen lauschte, den der Wind gegen die Fensterscheiben peitschte, so daß mich die Dunkelheit der Nacht mit Furcht erfüllte. Aber leise Schritte kamen heran und eine wohltuende Gegenwart machte sich fühlbar. Sorgsam zog Mutter die Decke näher um mich und sagte: ‚Gott segne dich‘. Wind und Regen peitschten weiter, aber das warme Gefühl blieb, auch nachdem meine Mutter sich zur Ruhe begeben hatte, ja es ist geblieben bis auf den heutigen Tag, obschon dieses liebende Herz längst nicht mehr schlägt. Jetzt mühe ich mich in der Tretmühle des täglichen Lebens ab und kenne keinen Gott, der eine solche Liebe einflößen und mein Sehnen stillen könnte.”
Andre wieder erzählen von einer tiefen Liebe, die sie gegen jemand hegen, der sie früher auch geliebt, sich aber nun abgewandt hat. Noch andre reden von dem Reichtum an Kunst und Musik, den sie in sich tragen, aber nie Gelegenheit hatten zur Entfaltung zu bringen, teilweise wegen ungünstiger Verhältnisse, teilweise wegen der Verständnislosigkeit der Menschen. Der Klageruf nach etwas Besserem, nach etwas, was mehr Befriedigung bietet, ertönt von allen Seiten; und doch ist Gott die Liebe! Unsre Führerin sagt: „Können wir Ihn bitten mehr zu sein?” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 2). Gott ist mehr als nur ein liebendes Wesen, wie wir Ihn uns unwissenderweise vorgestellt haben. Gott ist die Liebe selbst, die Ursache oder das Prinzip, auf dem alles beruht, was Liebe, Schönheit und Wahrhaftigkeit zum Ausdruck bringt.
Das Bild von irgend etwas hängt immer von dem ab, was es darstellt. Gott ist die ewige Liebe. Der Mensch, als das Bild, als die ewige Wiederspiegelung der Liebe bringt daher die Fähigkeit des endlosen Gebens zum Ausdruck. Der Apostel Paulus sagt: „Denn so das Klarheit hatte, das da aufhört, viel mehr wird das Klarheit haben, das da bleibet”. Wenn wir uns von unserm endlichen Begriff von Liebe abwenden und einen Schimmer ihrer Unendlichkeit erblicken, dann fangen wir an zu verstehen, daß unsre teuersten Erinnerungen an zarte Mutterliebe nur schwach das wiedergeben können, was die strahlende Herrlichkeit der Liebe Gottes bedeutet, der Liebe des einen großen Herzens, das weder Alter noch Verfall kennt. Die reinste Erinnerung an das Gefühl des Glücks, das die beschützende Gegenwart des Geliebten in holden Jugendtagen uns einflößte, ist nur eine kümmerliche Nachbildung der belebenden Gegenwart der Liebe, die ewig und unwandelbar ist. Der herrlichste Traum des Künstlers oder Dichters von Ebenmaß, Form und Farbe kann nicht einmal annähernd die Erhabenheit der göttlichen Liebe wiedergeben, der Liebe, die das Prinzip alles wahren Seins ist.
Laßt uns innehalten vor der herrlichen Offenbarung, daß Gott Liebe ist, und uns bewußt werden, daß der Mensch der Ausfluß des göttlichen Wesens ist. Die unendliche Liebe ist allwirksam, und ihre Ideen bekunden das unaufhörliche Ausströmen ihres Prinzips. Wir sehen also, daß der Mensch als das Ebenbild dieser Vater-Mutter Liebe all die Kraft und Weisheit der männlichen und all das Zartgefühl und die innere Anschauung der weiblichen Natur in sich trägt, und darin besteht die eine völlige Liebe. Der Mensch ist daher nicht auf Personen, Dinge und Umstände angewiesen, um seine Sehnsucht nach Liebe zu befriedigen. Indem er versucht, andern in reichem Maße die Liebe entgegenzubringen, die er widerspiegelt, wird seinen eignen Bedürfnissen abgeholfen. Beweist er keine Liebe, dann gelten ihm die Worte:
Wer aufhört zu lieben, empfängt nicht mehr,
Dies ist der Liebe Gesetz.
Das sterbliche Gemüt mag wohl ausrufen: „Ist das alles was uns geboten wird? Gibt es keinen andern Weg? Muß ich stets einsam und traurig bleiben? Wie kann ich andern Liebe erweisen, wenn mein eignes Herz danach hungert?” Unsre Führerin beantwortet diese Fragen in den ersten sechs Seiten des Kapitels über die Betätigung der Christlichen Wissenschaft (Wissenschaft und Gesundheit, S. 362) in wunderbarer Weise. Sie macht es uns klar, daß, wer den Leidenden helfen will, selbst die unendliche Liebe widerspiegeln, den Christus-Geist zum Ausdruck bringen muß. Nur dadurch kann er den Kranken von Krankheit und den Sünder von der Sünde befreien helfen; nur so kann er seinen Bruder dazu bringen, daß er bereitwillig seinen Eigenwillen aufgibt, der ihm Leid, Bitterkeit, Einsamkeit und Herzeleid gebracht hat.
Abraham war selbst dann zum Gehorsam bereit, als er glaubte seinen geliebten Sohn opfern zu müssen. Der Tau lag noch auf der Erde, als er fest entschlossen den Berg hinanstieg. Er ging keinem freudigen Ereignis entgegen, aber sein Gehorsam war unerschütterlich, und durch diese Treue erstand ihm ein neuer Tag, der ihm die Offenbarung des immergegenwärtigen Christus brachte. Sein Beispiel kann uns in unserm Bestreben, Sünde, Krankheit und Sorgen zu überwinden, zur Ermutigung dienen. Wir müssen das göttliche Gesetz demonstrieren, ohne auf menschliche Weise dem Gesetz vorzuschreiben, wie es arbeiten soll. Ein jeder vermag darin einen Trost zu finden, daß er der lebendige Ausfluß des großen Herzens sein kann, und wenn er nur vertraut, auch wo er nicht sieht, dann wird die Liebe ihn in ihrer eignen Weise belohnen, ihm Frieden, Glückseligkeit und Freude bringen und ihn in ein besseres Verständnis von den Worten des Apostels Johannes einführen: „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm.”