Viele von denen, die sich der Christlichen Wissenschaft gegenüber ablehnend oder feindselig Verhalten, suchen dies dadurch zu rechtfertigen, daß diese Religion das Böse als unwirklich bezeichnet; ja man hört oft die Behauptung, die Christliche Wissenschaft leiste durch diese Lehre geradezu der Sünde Vorschub.
Wer die Christliche Wissenschaft in dieser Weise kritisiert, sieht offenbar nicht ein, daß, wenn er für die Wirklichkeit des Bösen eintritt, er Gott mißachtet. Wenn man Gott für den Schöpfer des Bösen hält, so ist das gleichbedeutend mit der Annahme, daß Er weniger gut und liebevoll sei denn ein gewöhnlicher Mensch, der das Böse scheut. Es ist als ob man behauptete, Gott sei nicht so vollkommen wie ein Mensch, der aus Unachtsamkeit oder infolge einer Versuchung in Sünde verfallen ist. Wenn ein Mensch, den man für achtbar und ehrenhaft gehalten hat, sich ein moralisches Vergehen zuschulden kommen läßt, so ändert das seinen Charakter in den Augen der Leute. Wie viel größer wäre die Veränderung in Gott, wenn Er der Schöpfer des Bösen würde — in Ihm, dessen Augen zu rein sind, um Übels zu sehen, wie der Prophet sagt.
Wenn andrerseits Gott nicht der Schöpfer des Bösen ist und das Böse dennoch besteht, so ist die klare Folgerung die, daß Gott nicht allmächtig ist. Seine Macht wäre der des Schöpfers des Bösen untergeordnet. Dies ist durchaus widersinnig, drückt aber die Zwangslage aus, in der sich derjenige befindet, der die Wirklichkeit des Bösen als einen Teil der christlichen Lehre betrachtet. Was Mrs. Eddy über das Böse und seine Unwirklichkeit gelehrt hat, ist in ihren Schriften klar dargelegt. Wir möchten besonders auf die folgenden Worte aus ihrer Botschaft von 1901 an Die Mutter-Kirche hinweisen (S. 14):
„Glauben die Christlichen Wissenschafter, daß das Böse besteht? Wir antworten ja und nein! Ja, indem wir wissen, daß das Böse als ein falscher Anspruch, eine falsche Wesenheit, eine gänzliche Falschheit im Denken besteht; und nein, indem wir wissen, daß es nichts ist, was Freude empfindet, leidet oder wirklich ist. Wir weichen in dieser Sache nur insofern vom Kirchentum ab, als unser Glaube die Tatsache erfaßt, daß man uns das Böse nicht so wirklich machen kann, daß es uns erschreckt und dadurch meistert, oder unsre Liebe gewinnt und uns dadurch auf unserm Weg zur Heiligkeit aufhält. Wir sehen das Böse als eine Lüge an, als eine Täuschung, und halten es daher für ebenso unwirklich wie eine Luftspiegelung, die den Reisenden auf dem Heimweg irreführt. ... Für den Übeltäter liegt keine Ermutigung in der Behauptung, daß das Böse unwirklich ist, denn ich erkläre zugleich, daß er aus seinem Glauben an diese schreckliche Unwirklichkeit erwachen, Buße tun und seine bösen Wege verlassen muß, um die Unwirklichkeit des Bösen zu verstehen und zu demonstrieren.”
Wenn die gegen die Christliche Wissenschaft gerichtete Kritik die Tatsache außer acht läßt, daß Jesu Nachfolger die Werke tun müssen, die er tat und sie zu tun lehrte, so kann das keinen befremden, der bedenkt, daß diese Werke auf der Basis der Unwirklichkeit von Sünde und Krankheit beruhen. Der Christ, der des Meisters Befehl befolgt, das Evangelium zu predigen, muß, um seinem Bekenntnis treu zu sein und den Geist Christi zu bekunden, gleichfalls dem Befehl nachkommen, die Kranken zu heilen. Aus diesem Grunde können Christliche Wissenschafter nicht mit Predigen zufrieden sein, noch das Heilen der Kranken auf eine „gelegene Zeit” verschieben, noch das Heilungswerk denen überlassen, die, wie vielfach der Fall ist, nicht einmal ausgesprochene Christen sind.
Es ist die Aufgabe des Christlichen Wissenschafters, diejenigen zu heilen, die wegen Befreiung von körperlichen und geistigen Leiden zu ihm kommen. Zugleich aber muß er ihnen den Weg zur Erlösung zeigen und ihre Gedanken auf denselben lenken. In dem Maße, wie Christliche Wissenschafter den Inhalt ihres Lehrbuchs erfaßt haben, wird es ihnen klar, daß Sünde und Krankheit ein und dieselbe Grundlage haben, nämlich eine falsche Auffassung von dem Wesen Gottes und des Menschen. Die Sünde, in die ein Mensch verfallen ist, ist nicht wirklicher als die Krankheit, die einem andern anhaftet; daher ist es der Zweck derer, die ihren Nächsten lieben wie sich selbst, ihn zu befreien, seien es Bande der Krankheit oder der Sünde. Mit den kurzen Worten: „Die völlige Liebe treibet die Furcht aus” gibt der geliebte Jünger seinem Verständnis der Wahrheit Ausdruck, und die Christlichen Wissenschafter haben sich von der Wahrheit der Erklärung ihrer Führerin überzeugt, „daß allein das menschliche Gemüt leidet und krank ist, und daß allein das göttliche Gemüt heilt” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 270).