Im Evangelium des Matthäus lesen wir, daß, nachdem Jesus „alle Verkäufer und Käufer” aus dein Tempel getrieben hatte, gleich darauf „Blinde und Lahme” zu ihm in den Tempel kamen und er sie heilte. Das Heilen folgte also direkt auf das Reinigen, und in diesem Umstand liegt für jeden tätigen Christen eine wichtige Lehre. Das sterbliche Gemüt sucht aus dem „Bethaus” eine „Mördergrube” zu machen, aber die geistige Wissenschaft macht diesem ruchlosen Handel, diesem Schachern um heilige Dinge, diesem Beflecken der Unschuld ein Ende. Und dann kommen die Hilfsbedürftigen, die Blinden und Lahmen unwillkürlich in den Tempel, um von der Christus-Macht geheilt zu werden.
In Wissenschaft und Gesundheit (S. 142) sagt Mrs. Eddy: „Die starken Stricke wissenschaftlicher Demonstration, wie Jesus sie geflochten und geschwungen hat, sind immer noch vonnöten, um die Tempel von ihrem eitlen Handel weltlicher Anbetung zu reinigen und sie zu geeigneten Wohnstätten für den Allerhöchsten zu machen.”
Was ist nun, metaphysisch betrachtet, dieser Tempel mit seinem gemeinen Prunk der Habsucht und des falschen Verlangens? Hier gibt uns Mrs. Eddy wiederum die nötige Erklärung, welche den werktätigen Christlichen Wissenschafter instand setzt, dieses hochwichtige Werk des Tempelreinigens zu verrichten. Im Glossarium des Lehrbuchs der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, findet sich auf Seite 595 folgende geistige Auslegung des Tempels: „Der Leib; die Idee des Lebens, der Substanz und Intelligenz; der Bau der Wahrheit; der Schrein der Liebe.” Wie geschäftig ist doch der fleischliche Sinn, den wahren Begriff des Leibes oder Körpers zu fälschen und somit den Körper in eine „Mördergrube” umzuwandeln. Er behauptet, der Körper sei gänzlich materiell; er habe seinen Ursprung im Staub und müsse wieder zum Staub zurückkehren; er werde von sogenannten materiellen Gesetzen regiert, die ihn der Gesundheit und Harmonie beraubten und ihn beständig allerlei Krankheiten und Unfällen aussetzten. Den vorherrschenden Theorien gemäß wäre der Körper den Elementen gegenüber hilflos, oder wenigstens sehr im Nachteil.
Das sterbliche Gemüt hält den metaphysischen Begriff des Tempels als der „Idee des Lebens, der Substanz und Intelligenz” für phantastisch und verwirft ihn deshalb, indem es vorgibt, daß das Leben der Materie innewohne und deren Wechsel und Veränderungen unterworfen sei; daß Substanz nicht Geist oder Gemüt, sondern Materie sei, daß sich die Intelligenz im Gehirn befinde und von der Größe, der Lage und der Form dieses physischen Organs abhängig sei. Ferner wiederholt das sterbliche Gemüt voller Zweifel die Frage: „Was ist Wahrheit?” Gibt es eine absolute Wahrheit, und wenn dies der Fall ist, hat sie einen Oberbau? Mit andern Worten, kann man irgend etwas Beständiges auf ihr erbauen? Die Christliche Wissenschaft beweist, daß die Wahrheit immer gegenwärtige Substanz ist; daß Gott unendliche Wahrheit ist. Der Oberbau der Wahrheit ist daher das, was auf einer göttlichen Grundlage beruht, auf Gott als dem Prinzip alles wahren Seins. Neulich sagte jemand zu dem Verfasser, die Christlichen Wissenschafter seien ihres Glaubens so gewiß. „Ich hingegen,” fuhr die Person fort, „werde in meinen Anschauungen immer unsicherer, je länger ich lebe.” Für den Christlichen Wissenschafter, der seinen Begriff des Tempels reinigt, wird alles, was auf Wahrheit beruht, klarer und gewisser; es nimmt größere Gestalt an, wird alle Tage schöner und wertvoller. Einem solchen dienen Trübsal, Verrat durch falsche Vorstellungen, oder Verlust sogenannten materiellen Besitzes nur dazu, das unzerstörbare Wesen der Wahrheit hervorzuheben, und zu beweisen, daß ihr Oberbau fest gegründet ist.
Für den fleischlichen Sinn ist „der Schrein der Liebe” ein Geheimnis. Das falsche sterbliche Gemüt, das keine Wahrheit kennt, kann die Liebe, die ja ewig ist, nicht verstehen. Sie entheiligt diesen Schrein, indem sie die Liebe entweder als bloße Sentimentalität oder als tierischen Trieb hinstellt. Indem die Christliche Wissenschaft lehrt, daß die Liebe Geist und nicht Materie ist, führt sie die Menschheit durch die Reinigung der Zuneigungen und durch die allmähliche Loslösung von der verderbten und knechtenden Anschauung von Liebe empor zu der rein geistigen Anschauung, die die heilende und erlösende Wirksamkeit Christi Jesu kennzeichnete, und die heute in derselben Weise in dem Werk der Christlichen Wissenschaft zum Ausdruck kommt. Diese Wissenschaft erhält den als „Schrein der Liebe” bestimmten Tempel rein und öffnet ihn den „Blinden und Lahmen,” den Traurigen und Verzweifelten, den Reumütigen und Schwachen — mit einem Wort, der ganzen leidenden, müden und sündenbeladenen Menschheit.
War dies nicht die Wissenschaft, die Petrus und Johannes ausübten, die Wissenschaft, die sie befähigte, den lahmen Mann zu heilen, der hiflos vor „des Tempels Tür” lag, „die da heißet die schöne” ? Ist es nicht die Wissenschaft, die in unsern Tagen die Heilungswerke der Bibel wiederholt? Ist nicht das Reinigen des Tempels heute ebenso nötig wie damals? Und bereitet es nicht das menschliche Bewußtsein heute wie damals auf die erlösende und heilende Wirksamkeit des wahren Christentums vor?
Die Bezeichnung Christliche Wissenschaft bedeutet eine bestimmte und beweisbare Erkenntnis der Wahrheit, und nicht bloß einen Glauben an die Wahrheit. Diese Wissenschaft bleibt nicht bei dem Verlangen nach Weisheit stehen, sondern sie ist die Weisheit selber. Daher beruht sowohl die Erlernung der Christlichen Wissenschaft wie ihre Ausübung auf dem Prinzip und geht von demselben aus. Das Werk der Reinigung des menschlichen Bewußtseins geschieht nicht aufs Geratewohl oder durch Zufall, sondern es ist wissenschaftlich und genau. Es umfaßt das Erkennen der Wahrheit — der Wahrheit über Gott, den Menschen und das Weltall. Sobald sich die Frage erhebt, „Was ist Gott,” verlangen sofort verschiedenerlei falsche Vorstellungen Anerkennung. Sie kommen aus den entfernten Winkeln der falschen Theologie, des herkömmlichen Kirchentums und der irrigen Philosophie. Sie tragen das Abzeichen der Unwissenheit und Furcht. Wollte man ihre Echtheit zugeben, so würden sie den Menschen davon abhalten, jemals in den Tempel einzutreten und ihn zu reinigen. Den vorherrschenden Vorstellungen gemäß hätten wir einen Gott, der das Böse wie das Gute geschaffen hat, der nach einem unerforschlichen Plan oder ganz und gar ohne Plan Strafe und Belohnung austeilt, der in weiter Ferne thront und dessen Wesen geheimnisvoll und furchterregend ist.
An Stelle dieser materialistischen und irrigen Anschauung von Gott gibt uns die Christliche Wissenschaft die wahre Anschauung von Ihm. Sie erklärt, daß Er vollkommen gut und darum der Urheber des Guten, nie aber des Bösen ist. Sie stellt uns Gott dar als Prinzip, das gesetzmäßig und nicht willkürlich wirkt. Seinem wahren Wesen nach ist Gott stets verläßlich. Er bewirkt stets Gutes, wird nie müde im Gutestun, verursacht nie Böses irgendwelcher Art und stimmt demselben nie bei. Dieses wahre Verständnis von Gott spricht einen jeden an, der Gutes begehrt. Und bei wem wäre dies nicht der Fall?
Von der Voraussetzung eines vollkommenen Gottes ausgehend, schließt die Christliche Wissenschaft auf einen vollkommenen Menschen. Die öffentliche Meinung denkt sich den Menschen als eine Zusammensetzung von Gutem und Bösem. Sie hält das Zeugnis der physischen Sinne für endgültig, anstatt diese Seifenblase falscher Annahme mit der Nadel der geistigen Erkenntnis zu pricken. Die allgemeine Anschauung vom Menschen läßt des Menschen Aussicht auf Erlangung von Harmonie in der Tat als hoffnungslos erscheinen. Gemäß dieser Anschauung wäre er einer wahren Sturmflut von widerstreitenden Kräften ausgesetzt, die ihn zuletzt in den Abgrund der Vernichtung stürzen würden.
Wie der barmherzige Samariter kommt die Christliche Wissenschaft zu dem von den Räubern der falschen Vorstellung zerschlagenen und geängsteten menschlichen Bewußtsein, verbindet ihm die Wunden und heilt es durch das Verständnis von des Menschen geistigem Wesen und seinem Geborgensein. In Wissenschaft und Gesundheit (S. 162) schreibt Mrs. Eddy: „Die Christliche Wissenschaft wirkt wie ein Reinigungsmittel, das den Irrtum durch Wahrheit neutralisiert.”
In derselben Weise neutralisiert die Christliche Wissenschaft die falsche Annahme, daß das von Gott geschaffene Weltall materiell sei und der Verwesung und Auflösung anheimfallen müsse. Die Wahrheit über Gottes Weltall lautet, daß es an Seinem Wesen teilnimmt, Seine Eigenschaften zum Ausdruck bringt und nicht die Seines Gegenteils; daß es geistig ist und nicht materiell. Nur auf dieser Grundlage können wir Jesu Macht über die Naturkräfte und die scheinbar unwiderstehlichen Gesetze des Verfalls verstehen. Wenn das wahre Weltall und dessen Gesetze geistig sind und von Gott, Geist, ausgehen, so kann sich die Menschheit dem Verständnis der großen Taten Christi Jesu nähern.
Das Reinigen des Tempels bringt sonderbare Mißbegriffe aus den Ecken und Winkeln hervor. Allerhand Dinge kommen ans Licht, um als wertlos oder geradezu unrein beseitigt zu werden. Falscher oder gemeiner Zierrat, mißratene Arbeit, geheime Ansprüche jeder Art werden durch dieses Suchen und Reinigen bloßgelegt. Nichts Böses kann entrinnen. Einem gewissenhaften und nach den Regeln der Christlichen Wissenschaft arbeitenden Menschen ist es oft möglich, das Böse, welches sich seit Jahren angehäuft hat, in einem einzigen Tag hinauszufegen. Das Leben der Christlichen Wissenschafter bezeugt die Macht des richtigen Denkens, welches alles Falsche „zunichte, zunichte, zunichte” macht, „bis der kommt, welchem das Recht zusteht.” (Zürcher Bibel.) Die christlich-wissenschaftliche Bewegung bekundet diese reinigende Tätigkeit. Ihre Kirchen setzen sich nicht aus Menschen zusammen, die in Selbstzufriedenheit ihr Werk für vollendet erachten. Sie bieten denen keinen Zufluchtsort, die sich der Notwendigkeit der Selbstverleugnung entziehen wollen, sondern nur denen, die gerne lernen möchten, wie man das eigne Ich beiseite setzen und dadurch in die Freuden wahrer Selbstopferung eingehen kann. Nur durch das beharrliche Verfolgen wahrer Ideale kann der Tempel, „dessen Baumeister und Schöpfer Gott ist,” verwirklicht und rein gehalten werden.
Die Art, wie der Tempel zu reinigen ist, muß sorgfältig erwogen werden. Genügende geistige Erkenntnis ist nötig, um zwischen dem Bösen und dem Guten, dem Echten und dem Unechten unterscheiden zu können. Diese Erkenntnis nun gibt uns die Christliche Wissenschaft. Es ist aber zu beachten, daß die so sehr nötigen Resultate nicht erzielt werden, wenn man sich bloß mit dem Kehricht abgibt. Keine Kenntnis des Bösen, wie eingehend sie auch sei, vermag an sich den Christlichen Wissenschafter so mit Mut und Weisheit auszurüsten, daß er aus einer „Mördergrube” ein „Bethaus” machen kann. Paulus sagte in bezug auf den geistigen Tempelbau, „eines jeglichen Werk” werde „durch Feuer offenbar werden;” und er fügt hinzu: „Der Tempel Gottes ist heilig,— der seid ihr.”
Wenn dem Schüler der Christlichen Wissenschaft die scheinbaren Verfahrungsarten des Bösen zuerst zum Bewußtsein gebracht werden, so denkt er zuweilen, die Kenntnis vom Bösen könne das Böse zerstören. Mit der Zeit lernt er aber einsehen, daß die Erkenntnis des Guten die tätige, die positive Kraft ist. Dies liefert ihm die Litzen zu den Stricken, mit welchen er das Übel bewältigen und austreiben kann. Wir müssen uns in acht nehmen, damit wir nicht etwas Gutes aus dem Tempel fegen, indem wir es für böse halten, und nichts Böses beibehalten, indem wir meinen, es sei gut. Unter allen Umständen müssen wir die Tatsache vor Augen haben, daß die Erkenntnis des Irrtums nur eine Vorbereitung ist auf die Zerstörung des Bösen, die dann durch die Macht der Wahrheit zustande kommt. Nur die Gegenwart des unendlichen Guten zerstört das Böse und reinigt den Tempel des Bewußtseins.
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