In der einfachen Geschichte von der großen Sünderin liegt eine Welt von hingebender Liebe, Demut und Dankbarkeit. Ungebeten trat dieses Weib (Maria Magdalena, wie viele glauben) in das Haus des Pharisäers, und unbekümmert um die vornehmen Leute und die reiche Umgebung, in die sie gar nicht hineinpaßte, brachte sie Jesus ihre kostbare Gabe dar. Wenn wir diesen ganzen Vorgang, der sich nach morgenländischer Art abspielte, richtig auffassen, so hat er für uns eine hohe geistige Bedeutung. Die Lehren, die er enthält und die sich jeder Christliche Wissenschafter zu Herzen nehmen sollte, werden um so bedeutsamer, je eingehender wir sie im Licht der Seligpreisungen betrachten.
Alles, was Jesus in der Bergpredigt aussprach, wurde durch die geistige Erweckung und Erhebung dieses Weibes in wunderbarer Weise bestätigt. Nach Lukas Erzählung war sie eine Sünderin, eine öffentliche Person. Vielleicht hatte sie den großen Mann aus Nazareth gesehen, wie er umherging und Gutes tat. Vielleicht hatte sie die Worte voll göttlicher Kraft und Wahrheit vernommen, die von seinen Lippen fielen. Fast glaubt man sie sagen zu hören: „Dein Anblick enthüllte meine Sünde und wandelte meine falschen Freuden in Kummer” („Miscellaneous Writings,“ S. 326). Sündenbefleckt und tief betrübt, wie sie war, hatte sie erkannt, daß die Sinnenlust nur Schaum ist auf dem Strom menschlicher Erfahrungen. Mit bebender Scham fühlte sie die innere Armut ihres öden Lebens und wurde dadurch empfänglich für eine geistige Auffassung des Seins. In diesem Seelenzustand finden wir die erste Seligpreisung bewahrheitet: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.”
Ein unwiderstehliches Verlangen, Jesus zu sehen, trieb dieses Weib in das Haus Simons, obgleich es ihr verboten war. Der Strahl eines neuen geistigen Bewußtseins, eine so reine und ungebrochene Vorstellung vom wahren Menschen war in ihr aufgegangen, daß es sie jeden Klassenunterschied, jede soziale Rangordnung vergessen ließ. Keine Empfindlichkeit, die nur falsche Demut bedeutet, keine Selbstverdammung, keine Angst vor Vorwürfen hielt sie vom Meister zurück, der die Menschen lehrte, sich in Gott zu finden. Voller Freude näherte sie sich Jesus mit dem Alabasterfläfchchen voll kostbaren Öles, dem Zeichen der Reinheit ihrer Absicht und des neu empfangenen Geistes der Heiligung. Die Tränen, mit denen sie die Füße des Herrn netzte, waren Tränen der Reue. Ja: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.” In heiligem Mitleid umfaßten sie schon jetzt des Heilands segnende Gedanken: „Deine Sünden sind dir vergeben.”
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