Jahrhunderte bevor Christus Jesus seinen Nachfolgern den praktischen Rat erteilte, dem Kaiser zu geben „was des Kaisers ist,” hatte ein Charakter des Alten Testaments den in diesen Worten enthaltenen Gedanken veranschaulicht und uns dadurch eine nützliche Lehre in der Ausübung von Geduld und Treue überliefert. Im ersten Buch Mose lesen wir, wie Josephs geistige Gesinnung den fleischlichen Sinn seiner Brüder in Wut versetzte, so daß sie ihn vom väterlichen Hause vertrieben und in schmachvolle Sklaverei verkauften. Und doch hatte er volles Vertrauen auf Gottes Güte und fühlte sich trotz seiner schlimmen Erfahrungen allem Anschein nach nicht unglücklich.
Als Diener in Potiphars Haus verrichtete er gewissenhaft die ihm zugewiesene Arbeit. Er gab sich keineswegs dem Gedanken hin, daß der Dienst bei Potiphar ihm nicht zukomme und er ihm keinen Gehorsam schulde, weil ja der Ägypter nicht sein rechtmäßiger Herr und Meister sei. Er war ein Metaphysiker und machte sich auf metaphysische Art und Weise ans Heilen der Zustände, die ihn umgaben. Daß seine Freiheit in Gott, dem göttlichen Gemüt, ruhte und seine Knechtschaft nichts als ein Trugbild des sterblichen Gemüts war, und daß der Irrtum, der ihn in jene Stellung gebracht hatte, früher oder später zerstört werden würde, erkannte er ganz genau. Er wußte ferner, daß sein Problem nie durch falsches Denken gelöst werden könne, sondern daß eine richtige Denk- und Handlungsweise das einzige Mittel sei, ihm seine rechtmäßige Freiheit wiederzugeben. In seines Vaters Hause hatte er Gott gedient, und diesem Dienst wollte er auch in Potiphars Haus treu bleiben. Welcher Art seine Arbeit auch sein mochte, er wußte, daß, solange sein Denken rein blieb, seine Hände nichts Unrechtes schaffen und sein Tun zu nichts anderm beitragen konnte, als zur Verherrlichung Gottes. Er diente also in erster Linie nicht dem Ägypter, sondern Gott.
Wer weiß, ob Paulus nicht an Joseph dachte, als er sagte: „Alles, was ihr tut, das tut von Herzen als dem Herrn und nicht den Menschen!” Joseph hielt mit solcher Treue an seinem hohen Begriff wahrer Dienstleistung fest, daß seine Tüchtigkeit erkannt und seine Treue belohnt wurde. Daher heißt es von ihm: „Und sein Herr sah, daß der Herr mit ihm war; denn alles, was er tat, da gab der Herr Glück zu durch ihn; ... der Herr segnete des Ägypters Haus um Josephs willen, ... darum ließ er’s alles unter Josephs Händen, was er hatte.”
Vom Standpunkte des Dieners muß die Stellung dieses jungen Ausländers höchst angenehm gewesen sein. Er besaß das volle Vertrauen seines Meisters, war seine rechte Hand und nur noch dem Namen nach ein Sklave. Doch es kam eine Prüfung; aber wie heftig die Angriffe der Versuchung auch waren, sie vermochte nicht, sein hohes Ideal der Reinheit herabzusetzen, und durch ein solches Standhalten bewies er zugleich seine Treue gegenüber seinem Arbeitgeber. Mochten Sinnlichkeit und Verrat von noch so hoher Stelle kommen, er wies sie in wissenschaftlicher Weise und mit erhabenem Mut zurück. Da es dem Irrtum nicht gelungen war, Joseph durch Glattzüngigkeit und Überredung zu Fall zu bringen, griff er ihn offen an und war auch eine Zeitlang scheinbar erfolgreich. Joseph fiel bei seinem Meister plötzlich in Ungnade, und trotz seiner Unschuld wurde er seines Amtes enthoben und wie ein gemeiner Verbrecher ins Gefängnis geworfen.
Was tat Joseph nun im Gefängnis? Klagte er über sein Unglück, schimpfte er über seinen Verleumder oder gab er sich dem Selbstbedauern hin? Nein, er vergegenwärtigte sich die Allmacht Gottes und demonstrierte sie auf solch wirksame Weise, daß Gott „ihn ließ Gnade finden vor dem Amtmann über das Gefängnis, daß er ihm unter seine Hand befahl alle Gefangenen im Gefängnis, ... denn der Herr war mit Joseph, und was er tat, da gab der Herr Glück zu.” Er erhob sich über die ihn umgebenden Zustände und erwarb sich dadurch die Achtung und das Zutrauen sowohl seiner Vorgesetzten als seiner Mitgefangenen. So klar trat seine Zuverlässigkeit zutage, daß der Gefängniswärter recht froh war, verantwortliche Arbeiten unter seine Aufsicht stellen zu können. Im weiteren lesen wir, wie Joseph dank seiner geistigen Erkenntnis dem obersten Schenken Pharaos helfen konnte, seine verlorene Stellung wiederzuerlangen. Dann hatte Joseph eine Erfahrung, die auch in unsrer Zeit nicht unbekannt ist. Der Empfänger der Wohltat vergaß sein Versprechen und ließ seinen Wohltäter im Stich. Der Mundschenk ist das Urbild von Leuten, die durch die Christliche Wissenschaft geheilt werden und dann diese Lehre wieder verlassen, bis neues Leid sie dazu treibt, wiederum bei ihr Hilfe zu suchen.
Zwei Jahre lang blieb dieser treue und geduldige Mensch im Gefängnis, bis Widerwärtigkeiten selbst den König bedrohten. Pharaos Problem war zu schwer, um nach materieller Verfahrungsweise gelöst zu werden; die Wahrsager waren seinem unheilverkündenden Traum gegenüber ratlos. Da erinnerte sich der Mundschenk, daß Joseph ihm seinerzeit in einer ähnlichen Schwierigkeit geholfen hatte. In Not und Bedrängnis wendet sich das sterbliche Gemüt immer wieder an das göttliche Prinzip, um von sich selbst erlöst zu werden. Der König ließ den Gefangenen vor sich kommen, der zu befolgende Weg kam zur Darlegung, und der wahre Wert Josephs wurde wieder erkannt. Pharao sah den großen Umfang dieses Problems, und da er überzeugt war, daß der „ebräische Jüngling” die Sachlage richtig erfaßt hatte, hielt er ihn für den passendsten Menschen, die ungeheure Aufgabe durchzuführen, d. h. die sieben reichen Jahre so auszunützen, daß in den darauffolgenden sieben Jahren der Not gesteuert sein würde. Somit ernannte er Joseph zu diesem Amt, dem höchsten, das er zu vergeben hatte. Er erkannte, aus welcher Quelle der junge Ebräer seine Weisheit schöpfte. Und so war alles, was dieser unternahm, mit Erfolg gekrönt. Dank seiner Umsicht und Vorsorge wurde der drohenden Hungersnot vorgebeugt.
Diese Wirksamkeit Josephs kann als eine herrliche Demonstration der Wahrheit und Liebe angesehen werden. Aber er stand vor einer noch größeren Aufgabe, einer Aufgabe, welche ein weit größeres Maß von Weisheit und wahrer Liebe forderte. Als seine auf Irrwege geratenen Brüder in ihrer Not vor ihm erschienen, was wäre für ihn, den höchsten Beamten des Königs, vom menschlichen Standpunkt aus natürlicher gewesen, als seine Feinde mit offenen Armen zu empfangen, ihnen zu vergeben, sie von ihrer Not zu erlösen und sich in ihrer Dankbarkeit zu sonnen? Joseph war jedoch viel zu klug und zu aufrichtig, um sich einer Gemütserregung hinzugeben. Er verstand den Unterschied zwischen einer wahren Widerspiegelung der Liebe und ihrer menschlichen Nachahmung. Seine Aufgabe war es, seine Feinde geistig zu segnen und ihren „Weg vom Sinn zur Seele” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 566) nicht zu hindern durch menschliches Vergeben, das ihnen freigestellt hätte, ihr Vergehen zu wiederholen.
Auf Seite 8 von „Miscellaneous Writings“ schreibt Mrs. Eddy: „Betrachte nur das als deinen Feind, was das Christus-Bild, das du wiederspiegeln sollst, befleckt, entstellt und entthront.” Wir sehen, daß das nichtswürdige Betragen der Brüder dem Joseph zu großem Segen verholfen hatte, statt ihm zu schaden, indem das Ausarbeiten seiner sich daraus ergebenden Probleme jahrelanges Beten und Nachdenken erforderte, wodurch er ein größeres Maß der Christus-Ähnlichkeit erlangte. Seine Liebe zu seinen Brüdern war die „reine Liebe, die ihre Feinde segnet,” wie Mrs. Eddy in der wissenschaftlichen Definition von „Joseph” schreibt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 589). Es drängte ihn so stark, sich seinen Brüdern zu erkennen zu geben, daß „er sich von ihnen wandte und weinte;” aber er besiegte seine Rührung und half ihnen auf die wahre, wissenschaftliche Art und Weise, den Punkt im göttlichen Gemüt zu erreichen, bei welchem er angelangt war. Die Prüfung, der sie sich unterziehen mußten, war streng, denn er nötigte sie, die Ehrlichkeit ihrer Reue und Besserung in vollem Maße zu beweisen; und dann kam die glückliche Wiedervereinigung mit seinem Vater Jakob (Israel) und allen seinen Brüdern, den vielgeliebten Benjamin inbegriffen.
Wir sollten an die Erfahrungen des einsamen ebräischen Jünglings in dem heidnischen Haushalt, im trüben Gefängnis und am heidnischen Königshof denken und uns schämen, daß uns unsre kleinlichen Probleme oft so groß vorkommen. Wenn wir glauben, unsre Umgebung sei so sehr materialistisch und hindere unser geistiges Wachstum, so wollen wir bedenken, zu welcher geistigen Höhe sich dieser Jüngling emporschwang, und zwar ohne Freunde, die ihn hätten beraten, ohne Kirchen, deren Gottesdienste er hätte besuchen können. Wenn uns die Ärgernisse im Büro, in der Fabrik oder im Kaufladen in die Gefängniszelle der Mutlosigkeit hinunterschleppen wollen, können wir uns bewußt werden, was richtiges Denken für diesen jungen Mann ausgerichtet hat, können aufhören, über selbstsüchtige Arbeitgeber, strenge Pflichten und undankbare Freunde zu murren. Seien wir nicht ungeduldig, wenn das Heilen eines physischen Leidens nur langsam vor sich geht; erkennen wir vielmehr, daß „der allmächtige Gott das Reich eingenommen hat,” und daß wir diese Tatsache zuletzt erkennen und das materielle Gegenzeugnis als Lüge entlarven werden. Dann werden wir aus dem Gefängnis der Sinne erlöst und nehmen unsern Platz zur Seite des Thrones (im geistigen Bewußtsein) ein. Je mehr wir die Wahrheit über uns selbst erkennen und an ihr festhalten, nämlich an der Wahrheit, daß unser vollkommenes Sein in Gott ist, daß wir vom göttlichen Gemüt allein regiert und geleitet werden, daß wir keinem andern Gesetz als dem der Liebe unterworfen sind, und daß wir von jedem Einfluß, der nicht absolut gut ist, frei sind, desto eher werden wir unsern rechtmäßigen Platz im Reich Gottes finden.
Wie in Josephs Zeiten, so wird auch heutzutage die Wirksamkeit der Christlichen Wissenschaft in ihrer Anwendung auf Regierungs- und Volkswirtschaftsprobleme anerkannt. Unter denen, die sich mit Politik befassen, sei es Landes-oder Lokalpolitik, findet sich eine stets wachsende Anzahl Menschen, die Nachfolger unsrer verehrten Führerin sind und die sich ernsthaft bestreben, das Los ihrer Mitmenschen zu bessern. In einem gesetzgebenden Körper hält sich der Christliche Wissenschafter stets vor Augen, daß es nur ein Gesetz gibt, nämlich Gottes vollkommenes, ewiges und unveränderliches Gesetz; und dieser wahre Begriff des Gesetzes bewirkt die Verbesserung der menschengemachten Gesetze. Bei allen seinen Erwägungen verliert der wahre Christliche Wissenschafter die Tatsache nie aus dem Auge, daß Gott der einzige Gesetzgeber ist. Als Richter leistet er besonders gute Dienste. Er weiß, daß Gott die einzige Intelligenz ist, und daß er als die Widerspiegelung des einzigen Gemüts diese Intelligenz zum Ausdruck bringt. Er ist stets bemüht, die menschlichen Gesetze nach dem Maßstab des göttlichen Gesetzes auszulegen.
Auch in der Geschäftswelt wird der Wert der Christlichen Wissenschaft immer mehr anerkannt. Kluge Arbeitsgeber sind auf der Suche nach Angestellten, die diese Wissenschaft in ihrer Arbeit anwenden. Dem Verfasser dieses Artikels wurde kürzlich mitgeteilt, daß zwei Geschäftsherren ganz unabhängig von einander im wesentlichen gesagt hätten: „Eine Stenographistin, die Christliche Wissenschafterin ist, kann bei mir unter ihren eignen Bedingungen eintreten.” Dies mag uns an die Gelegenheit erinnern, welche Joseph benutzte, um den Wert geistigen Verständnisses zu beweisen. Jesus sagte: „Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, auf daß, wenn ihr nun darbet, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten.”
