Der erste Schritt zur Überwindung unsres Feindes besteht darin, daß wir erkennen, wer oder was unser Feind ist, denn wo diese Kenntnis fehlt, ist Gefahr vorhanden, daß man unter seine Herrschaft kommt. Christus Jesus wies deutlich darauf hin, daß unsre Feinde nicht Personen sind, indem er seinen Nachfolgern befahl, diejenigen zu lieben, die ihnen feindlich gegenüberstehen. In dem Aufsatz „Liebet eure Feinde,” der viel Aufklärendes enthält, schreibt Mrs. Eddy: „Betrachte als deine Feinde einfach das, was das Christus-Bild, das du zum Ausdruck bringen solltest, entehrt, entstellt und entthront” („Miscellaneous Writings,“ S. 8). Wir haben also eine feste Regel, mit Hilfe deren wir unsern Feind stets ausfindig machen können. Niemals ist es eine Person, sondern stets eine schlechte Gesinnung oder ein schlechter Einfluß, eine falsche Denkweise, durch deren Annahme wir an unserm höchsten Begriff vom Guten Einbuße erleiden würden.
Der einzige persönliche Feind, den wir haben, ist unsre eigne falsche Vorstellung von Persönlichkeit, wie Mrs. Eddy in obengenanntem Aufsatz darlegt. Andre mögen glauben, feindselige Gefühle gegen uns zu hegen, und mögen die Absicht haben, uns Böses zuzufügen, doch ist dies weniger wichtig, als unsre eigne mentale Haltung. Wenn wir keinem Gefühl der Feinschaft Raum geben, haben wir ein freies Feld, auf dem wir den unpersönlichen Irrtümern, die in unser Bewußtsein eindringen und dasselbe entehren wollen, begegnen und sie überwinden können. Nur in dem Maße wie diese Irrtümer des persönlichen Elements entkleidet werden, können wir sie im wahren Lichte sehen und in vernunftmäßiger Weise zunichte machen. Auf die Feinde Bezug nehmend, denen die Israeliten im Lande Kanaan entgegentreten sollten, gebot Moses, man solle sie „verbannen” und „keinen Bund mit ihnen machen, noch ihnen Gunst erzeigen.” Im wörtlichen und persönlichen Sinn würde ein solches Verfahren von großer Härte zeugen; wenn wir aber die Feinde metaphysisch als die Irrtümer auffassen, deren Wirken dahingeht, die Menschheit von ihrem geistigen Erbteil auszuschließen, so sehen wir, daß ein weniger strenges Verfahren nur dazu dienen würde, die Knechtschaft unter der Herrschaft des Bösen auf unabsehbare Zeit zu verlängern. Hierfür liefert die Geschichte der Menschheit genügenden Beweis.
Was ist es, das danach strebt, das Christus-Bild in unserm Bewußtsein zu entehren, zu entstellen und zu entthronen? Ist es nicht alles, was uns unsres Begriffs vom geistig Guten, von geistiger Liebe und geistigem Sein zu berauben droht? Solche Zustände werden in der Bibel als Lüste des Fleisches, als Eigenschaften des sogenannten „fleischlichen Sinns” bezeichnet, und auf Seite 330 von Wissenschaft und Gesundheit finden sich dafür folgende Namen: „Wollust, Unehrlichkeit, Selbstsucht, Neid, Heuchelei, Verleumdung, Haß” usw. Wer hat nicht mit einem oder mehreren von diesen Übeln zu kämpfen gehabt, die das Bewußtsein in Knechtschaft zu bringen suchten! Bisweilen sind wir im Kampfe unterlegen oder haben uns mit dem Feind auf einen Vergleich eingelassen, nur um nach erlebter Schmach und Selbstverdammung unsre Freiheit wiedergewinnen zu müssen. Wenn wir erkannt haben, daß dies die Feinde sind, denen wir zu begegnen und die wir zu überwinden haben, ehe sich uns das volle Bewußtsein vom Himmelreich erschließen kann, haben wir einen verheißungsvollen Anfang gemacht. Uns aber dem Wahne hinzugeben, man könne Fortschritte machen, indem man diesen Feinden Mitleid erzeigt oder einen Bund mit ihnen schließt, indem man nachlǎssig Wache hält oder nur mit halber Überzeugung kämpft, ist ein schwerer Irrtum.
Eins ist sicher: wenn wir einmal unsern Feind klar erkannt haben, kann er nie wieder als Freund verkleidet oder ohne unsre Einwilligung bei uns Zutritt finden. Wenn uns die Augen wirklich aufgegangen sind über den verderblichen Einfluß des Zorns, der Unehrlichkeit, des Hasses und aller Selbstsucht, durch die unser Begriff vom vollkommenen Menschen entstellt wird, können wir diese Irrtümer nicht wieder in unser Denken aufnehmen und dabei Unwissenheit vorgeben. Wenn wir durch selbstsüchtige Schwäche oder Mangel an moralischem Mut mit diesen Feinden Mitleid haben, so bedeutet das, daß sie uns zu Gefangenen gemacht haben, und daß wir den „letzten Heller” zu unsrer Befreiung werden bezahlen müssen. Kann jemand, der die völlige Verderbtheit der Vorstellung von verstandbegabtem Bösen in seinen verschiedenen Phasen im Lichte der Christlichen Wissenschaft erkannt hat, fernerhin demselben einen Platz im Bewußtsein einräumen, das „dem Herrn heilig sein” muß?
Schüler der Christlichen Wissenschaft, die ihre Lehren praktisch anwenden, sollten über das Wesen und die Wirkungsweise des sogenannten Bösen besser unterrichtet sein als andre. Sie sollten seine Abscheulichkeit sowie die Anzeichen seines zerstörenden Einflusses in moralischer und physischer Beziehung kennen. Dennoch sind die Ansprüche des Irrtums so listig, daß diejenigen, die am besten wissen, was Irrtum ist, und die sich in gewissem Maße der Forderungen der Wahrheit bewußt sind, dennoch Tag für Tag in Versuchung kommen, sich das Böse als Person zu denken, es beim Namen zu nennen, den damit verbundenen Augenschein zu glauben und seinen Suggestionen zu folgen. Das menschliche Denken ist nur zu sehr geneigt, dem Irrtum Intelligenz zuzuschreiben, indem es mit ihm wie mit einer Person streitet. Selbst der Christliche Wissenschafter läßt sich bisweilen hierzu verleiten, obgleich er glaubt, die unpersönliche und unwirkliche Natur des Bösen zu verstehen. Bei all unsrer Erfahrung als Christliche Wissenschafter geraten wir, wenn wir uns nicht immerwährend vorsehen, in das Netz des Feindes, und dies geschieht, indem wir gesprochenem Irrtum Gehör schenken, ihm in heftiger Weise entgegnen — als ob das Böse Sprache oder Gehör besäße —, anstatt zu wissen, daß es überhaupt nicht vorhanden ist, und dadurch eine weitere Gelegenheit wahrzunehmen, den vollkommenen Menschen zu schauen.
Aus unsern Erfahrungen sollten wir die Lehre ziehen, daß wir den einmal erkannten Feind stets als einen Feind behandeln müssen und uns nicht aus freien Stücken wieder ins Joch spannen dürfen. Wenn wir z. B. die schädliche Wirkung des Zornes gesehen haben, sollten wir dann erbarmungsvoll mit ihm verfahren, wenn er sich wieder einstellt? Selbstsucht wird uns vielleicht vorzureden suchen, es sei leichter, Groll zu hegen und eine heftige Antwort zu geben, als ein freundliches Wesen zu bewahren; und wir vergessen somit leicht, daß wir nicht um Ruhe sondern um Erlösung kämpfen. Wir handeln in weltlichen Dingen viel vernünftiger, denn wer würde jemanden in seinem Kontor oder Laden anstellen, den er als einen Dieb kennen gelernt hat? Wir sehen uns gegen den Verlust materieller Dinge vor, lassen aber unsre Gedanken-Türen in nachlässiger Weise gegen jeden raubsüchtigen Irrtum offen, als ob es von geringerer Bedeutung wäre, unser Bewußtsein gegen Einbruch zu sichern als unsern Kaufladen. Wahrlich, wenn wir uns von solchen mentalen Zuständen wie Haß, Eifersucht, Rachsucht, Unehrlichkeit und Heuchelei unsrer guten Gedanken berauben lassen, können wir nicht erwarten, im Verständnis der Wissenschaft Gottes Fortschritte zu machen. Warum lassen wir also diese zugegebenermaßen feindlichen Elemente ins Bewußtsein eindringen, da wir doch wissen, daß ihr Einfluß nur ein schädlicher und verderblicher sein kann?
Wer den Irrtum nicht erkennt, läuft allerdings Gefahr, ihn für Wahrheit zu halten; wer aber die Wahrheit erkennt, kann durch ihr Gegenteil nicht getäuscht werden. Wenn wir auch nur einigermaßen verstehen, daß der Mensch das Ebenbild Gottes ist, wissen wir, daß das Übel keinen Teil von Gott bildet und in keiner Beziehung zu Ihm steht. Alles, was uns zu überzeugen sucht, daß das Böse etwas Wirkliches sei oder daß es im persönlichen Sinn Intelligenz besitze, ist unser Feind, mag der Name des betreffenden Irrtums auch verhältnismäßig harmlos erscheinen. Wenn die sich gegenwärtig bekriegenden Völker verständen, daß ihre Feinde nicht Menschen sind, würden sie keine materiellen Waffen brauchen, um sie zu bekämpfen. Hätten sie nur gewußt, daß ihre einzigen Feinde Habsucht, Neid, Eifersucht, Rachsucht, Selbstsucht und Ehrgeiz sind, nicht Personen, und daß diese üblen Gedanken und Beweggründe nicht nur im Bewußtsein der Gegner sondern auch in ihrem eignen gegen sie wirken, würde es nie zu diesem schrecklichen Konflikt gekommen sein. Wir würden dann Völker sehen, die ihre eignen Irrtümer bekämpfen, gleichviel welcher Art — die alle Übel im Namen Christi, des Sohnes Gottes überwinden. Hierzu muß es einstmals kommen, und je eher die Christlichen Wissenschafter in ihrer eignen Erfahrung die Wirklichkeit und Möglichkeit brüderlicher Liebe und freundlicher Gesinnung werktätig beweisen, desto eher wird der Tag des Weltfriedens dämmern.
