Einige Bogen in Maschinenschrift, die angeblich einen Teil der Ansprache eines Lehrers der Christlichen Wissenschaft an seinen Schülerverein enthielten, wurden mir einst von einem der Schüler übergeben. Ich hatte diesen Lehrer stets für einen besonders vorgeschrittenen Christlichen Wissenschafter gehalten und nahm daher die Bogen mit Freuden an. „Das ist ja eine förmliche Behandlung,” rief ich in freudiger Überraschung aus, indem ich die Blätter überflog. Und der Schüler stimmte mir bei. Nun hätte ich ein genügendes Maß der Erkenntnis haben sollen, um die Bogen gleich zurückzugeben; aber statt dessen benutzte ich jeden freien Augenblick, mich in dieselben zu vertiefen.
Dann kam mir der Gedanke: „Wie groß ist doch Gottes Güte, daß Er uns stets gibt, was wir bedürfen.” Ich hatte um mehr Licht gebetet, und mein Gebet schien unmittelbar Erhörung gefunden zu haben. Die Kraft der scheinbar so klaren, bestimmten Erklärungen der Wahrheit, die wie wuchtige Hammerschläge aufeinander folgten, erfüllten mich mit Freude. Sie schienen sich meinem Gedächtnis derart einzuprägen, daß ich sie ganz unbewußt zu einem Teil meiner eignen geistigen Arbeit werden ließ. Außerdem klangen sie mir besser als die einfacheren Erklärungen, die ich mir selbst zurechtgelegt hatte. Die Ergebnisse meiner Arbeit wiesen zwar keinen nennenswerten Unterschied auf; aber ich wandte diese Erklärungen beharrlich weiter an, denn wie konnte ich eine so schöne Gelegenheit, meine Kenntnisse zu bereichern, vorübergehen lassen. Als die Zeit kam, die Bogen zurückzugeben, konnte ich mich kaum von ihnen trennen und bat daher um Erlaubnis, sie abschreiben zu dürfen. Erst als ich an der Schreibmaschine saß und mit der Arbeit beginnen wollte, bemächtigte sich meiner ein gewisses Unbehagen — ein Gefühl, daß ich mit meinem Abschreiben am Ende etwas Unrechtes täte.
Wie ein Seefahrer in unsicheren Gewässern seine Karte zu Rate zieht, so öffnete ich das Kirchenhandbuch, Beim Durchlesen des Inhaltsverzeichnisses, um festzustellen, ob sich nicht irgendwo eine Vorschrift finde, die auf den vorliegenden Fall Bezug habe, fiel mein Blick auf die Worte „Formeln verboten,” und so las ich denn aufmerksam Artikel VIII, Abschnitt 9, durch, der wie folgt lautet: „Kein Mitglied soll beim Unterricht in der Christlichen Wissenschaft oder beim Heilen der Kranken als Hilfsmittel geschriebene Formeln gebrauchen, oder seinem Patienten oder Schüler dies erlauben. Alles, was zu beiden Zwecken nötig ist, ist in den Büchern der Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft enthalten. Sie mag zuweilen den Glauben durch einen geschriebenen Text stärken, wie es niemand anders vermag.” Aus dem Wörterbuch ersah ich dann, daß das Wort Formel auf ein lateinisches Wort zurückzuführen ist, das „Form oder Muster” bedeutet, und eine der Definitionen für Formel lautete: „Eine feststehende Wortverbindung.” Da die Blätter die Form oder das Muster einer christlich-wissenschaftlichen Behandlung im Sinne obiger Worterklärung enthielten, so waren sie tatsächlich Formeln, und natürlich blieb nichts andres übrig als sie zurückzugeben, ohne eine Abschrift zu machen.
Dann begann ein Kampf — denn es ist oft leichter, einen Standpunkt einzunehmen als auf demselben zu verharren, wie die meisten von uns wissen. Am schwierigsten war es, des Gefühls Herr zu werden, daß ich einen Verlust erlitten hätte. Der persönliche Sinn machte geltend, daß diese klaren, schönen christlich-wissenschaftlichen Erklärungen als unmittelbare Antwort auf ein ehrliches Gebet um mehr Licht gekommen seien. Wie konnte es dann recht sein, sie aufzugeben. Doch inmitten dieses inneren Aufruhrs und Fragens drang aus der Tiefe des Herzens die Erkenntnis empor, daß ein Christlicher Wissenschafter durch das Befolgen der Vorschriften unsrer Führerin nichts verlieren kann. Ich wußte, daß es eine Erklärung für diesen Fall geben müsse, und schließlich fand ich sie auch, und zwar, als ich mich Gott hinreichend genähert hatte, um Seine Wege ein wenig besser zu verstehen. Seine Wege gleichen freilich nicht unsern Wegen. Wohl hatte mein Gebet Erhörung gefunden, doch nicht in der Weise, wie ich zuerst angenommen hatte. Das Licht klarerer Erkenntnis kam, als ich bereit war, die Blätter aufzugeben.
Mrs. Eddy riet einst einem Schüler, einen bestimmten Weg einzuschlagen, obgleich weder sie noch der Schüler zur Zeit einen eigentlichen Grund dafür angeben konnte. Der Schüler gehorchte der Weisung, und später ergab sich denn auch die Erklärung für dieselbe, sowie ihre Richtigkeit. Daraufhin schrieb Mrs. Eddy („Miscellaneous Writings,“ S. 158): „Jetzt, nachdem Sein Bote die Weisung der göttlichen Liebe befolgt hat, kommt die Auslegung dieser Weisung. Sie sehen aber, daß wir beide erst gehorchen mußten, und zwar auf dem Wege des Glaubens, nicht des Schauens.” Der Kot, den Jesus auf die Augen des Blindgebornen schmierte, bewirkte nicht die Heilung, ja nachdem der Kot aufgeschmiert war, wurde dem Blinden geboten, hinzugehen und ihn abzuwaschen, und dem Bericht zufolge erhielt er erst dann sein Augenlicht, als er dieser Weisung nachgekommen war. Nachdem er sich am Teich Siloah gewaschen hatte, kam er „sehend” wieder.
Schreiber dieses fühlt sich nicht berechtigt, andern die Anschauungen Mrs. Eddys zu erklären, sondern sie berichtet hier von ihren eignen Erfahrungen, in der Hoffnung, daß jemandem, der vielleicht eine ähnliche Prüfung zu bestehen hat, dadurch geholfen werden möge. Mit diesem Zweck im Auge sei hiermit auf einige der schönen Lehren hingewiesen, die sich aus dem ernsten Nachdenken über die obengenannte Satzung und die beiden unmittelbar darauffolgenden ergaben. Der erste Segen lag in dem Umstand, daß ich das Forschen in Wissenschaft und Gesundheit mit größerem Eifer denn je zuvor betrieb. Nie hatte ich die sinnreiche Art der Darlegung in dem Kapitel über die „Betätigung der Christlichen Wissenschaft” so zu schätzen gewußt, und ich erkannte jetzt, daß sich der Inhalt nicht in stereotype Sätze oder Formeln fassen läßt. Der nächste Segen war die klare Erkenntnis, daß nicht das, was man sagt, sondern das, was man von dem Gesagten versteht, echten christlich-wissenschaftlichen Beistand ausmacht.
Wohl nicht zwei Menschen erteilen in genau derselben Weise Beistand, denn nicht zwei Menschen können sich einem gegebenen Gegenstand in genau derselben Weise nähern. Die Behandlung des einen gleicht vielleicht wohlgezielten, regelmäßigen Hammerschlägen, die des andern dem Tau, der nach einer sternenklaren Nacht unvermerkt herniederfällt. Dennoch wird durch beide Heilung bewirkt. Und warum? Weil es die Wahrheit ist, die da heilt. Die Art wie die Wahrheit zum Ausdruck gebracht wird, ist überwiegend Temperaments- und Bildungssache.
Jemand sagte einmal, der Grund, weshalb der Diener Elisas seine Axt verlor, sei der gewesen, daß sie ihm nicht gehörte. Als er sie im Wasser verschwinden sah, rief er aus: „Oh weh, mein Herr! dazu ist’s entlehnet.” Eine entlehnte oder geborgte Behandlung gleicht in vieler Beziehung einer geborgten Axt; der Umstand, daß man sie nicht zu handhaben weiß, macht sie unbrauchbar. Nicht Beredsamkeit, sondern das Bewußtsein der Wahrheit heilt. Unser Meister warnte seine Nachfolger vor dem vielen Plappern, wie es die Heiden täten. Eine christlich-wissenschaftliche Behandlung muß an Eigenart, Unmittelbarkeit, Freiheit und beglückendem Einfluß dem Vogelgesang gleichen, denn ist sie nicht letzten Endes ein Freudenlied darüber, daß in der ganzen weiten Gotteswelt nichts außerhalb Seiner liebenden Fürsorge zu finden ist?
Ein kleines fünfjähriges Mädchen, das in der Christlichen Wissenschaft aufgewachsen war, stieß einmal mit dem Kopf so heftig gegen die Tischkante, daß die vier im Zimmer anwesenden Erwachsenen mit der Unterhaltung aufhörten und sie ansahen. Niemand sprach ein Wort. Einen Augenblick blieb die Kleine ganz still mit geschlossenen Augen; dann schüttelte sie ihren Lockenkopf und sagte: „Es tut nicht weh!” worauf sie sich wieder ruhig ans Spielen machte. Nicht ein einziges Mal griff sie an die Stelle; für sie war die Sache erledigt. Nach einigen Minuten ging sie zu einer der Anwesenben und indem sie ihr die kleinen Arme um den Hals schlang, sagte sie leise: „Weißt du, Gott ist ja hier!” Das war ihre „Behandlung”— ihre ureigne, keine geborgte. Man kann verstehen, daß aus dem Herzen der Angeredeten ein stilles Gebet um diesen Kindessinn emporstieg, damit ihre geistige Arbeit in bezug auf Einfachheit, Reinheit und Wirksamkeit dem Gebet dieses Kindes gleichkommen möge.
Hier entsteht nun die Frage: Wie verhält es sich aber mit dem Lehrer, von dem die Blätter stammten, und mit dem Schüler, der sie weitergab? Lehrern der Christlichen Wissenschaft geht es wie andern Menschen: es werden ihnen bisweilen Dinge zur Last gelegt, für die sie nicht im entferntesten die Schuld trifft. Tatsächlich bedauerte in diesem Fall der betreffende Lehrer die Verbreitung solcher Blätter, weil sie den Sinn seiner Ausführungen zum großen Teil entstellten und ihm Aussagen zuschrieben, die er nicht gemacht hatte. Niemand sollte den Lehrer oder den Schüler verurteilen, denn erstens kann man einen Lehrer nicht für jedes Wort oder jede Handlung seines Schülers verantwortlich machen, und zweitens handelt ein Schüler, der solche Blätter weitergibt, gewöhnlich in gutem Glauben, nur von dem Wunsch erfüllt, seine Erkenntnis der Wahrheit andern zugute kommen zu lassen. „Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der da richtet.” Als sich einst Petrus um das bekümmerte, was Johannes tat oder was ihm beschieden war, sagte Jesus: „Was geht es dich an?”
Für Petrus ist die Frage wichtig: Was tut Petrus? Die Frage, die sich ein jeder stellen sollte, ist nicht, „Was tut ein andrer?” sondern, „Was tue ich?” An den Schriften unsrer Führerin hat die Welt ein System demonstrierbarer, reiner, göttlicher Metaphysik, eine Offenbarung der Allheit des Geistes und der Nichtsheit der Materie. Es entströmen ihnen Wasser, die klar sind wie der auf hohem Berg entspringende Kristallquell und die Läuterung und Heilung bewirken. Doch jenes Element im fleischlichen Gemüt, das alles Gute immerdar verkehren will, scheint unermüdlich in seinem Bemühen, diese reinen Wasser zu trüben, und zwar in einer Weise und durch Mittel, denen selbst die Christlichen Wissenschafter bisweilen ohne Absicht ihre Unterstützung gewähren.
Um einem angeblichen Bedürfnis entgegenzukommen, werden oft sogenannte „Hilfsmittel” angepriesen. Sie sollen zum Verständnis der Lehren der Christlichen Wissenschaft verhelfen, und zwar sind sie von Leuten geschrieben, die immer vergessen, sie mit ihrer Unterschrift zu versehen oder ihren Ursprung sonstwie anzugeben. Wir nehmen sie an, diese harmlos aussehenden Blätter, stecken sie wohl in eine Schublade oder ein Schriftenfach unsres Schreibtisches und geben vor, nicht viel von ihnen zu halten. Wahrlich, das sterbliche Dasein ist ein Zustand fortwährender Selbsttäuschung! Mrs. Eddy schrieb einstmals: „Es ist töricht zu sagen, daß du zwar die Patienten streichst, aber daß du kein Gewicht auf das Streichen legst. Wenn dem so ist, warum dann überhaupt streichen?” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 181). So kann sich auch jeder fragen: Wenn ich mir aus diesen umherirrenden Schriften nichts mache, warum behalte ich sie dann?
Jeder Mensch muß einstmals entscheiden, wem er lieber dienen will — der Sache Gottes oder sich selber, mag ihm die Entscheidung auch schwer fallen. „Denn der Herr, euer Gott, versucht euch, daß er erfahre, ob ihr ihn von ganzem Herzen und von ganzer Seele liebhabt.” Wenn alle Christlichen Wissenschafter diese unzuverlässigen kleinen Fahrzeuge, die auf der Zeitströmung herantreiben, abweisen würden, so würden sie bald ausbleiben.
Und das Schönste an der ganzen Sache ist dies: wenn jemand, der sich mit einem Gefühl des Bedauerns von solchen „Hilfsmitteln” abgewandt hat, an seinen Platz zurückkehrt und die Bibel, „unsern geeigneten Führer zum ewigen Leben” aufschlägt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 497), der macht eine merkwürdige Entdeckung. Es wird ihm plötzlich klar, daß er jetzt nur ein Mittel hat, doch ein sicheres Mittel, um ihm das Buch der Bücher zu erleuchten und ihm für die darin enthaltenen Wahrheiten ein klares, anwendbares und befriedigendes Verständnis zu geben — die beweisbaren Darlegungen der Christlichen Wissenschaft. Aber es muß hier darauf hingewiesen werden, daß selbst diese Darlegungen niemals als Formeln angesehen oder gebraucht werden dürfen. Ihr wahrer Zweck ist, das Denken zu vergeistigen und somit den Schüler unter den „Schirm des Höchsten” zu führen, wo er mit dem göttlichen Gemüt, dem Quell aller wahren Inspiration, in Gemeinschaft treten kann. Je klarer er dies einsieht, desto größer ist seine Dankbarkeit, so daß beim Aufschlagen und Lesen der lieben, vertrauten Seiten der Gedanke an das Aufgeben von Blättern genannter Art nicht das leiseste Gefühl eines erlittenen Verlustes in ihm erregt.
Der Ew’ge herrscht auf Erden,
Über Meere herrscht sein Blick;
Löwen sollen Lämmer werden.
Und die Welle schwankt zurück.
Blankes Schwert erstarrt im Hiebe,
Glaub’ und Hoffnung sind erfüllt;
Wundertätig ist die Liebe,
Die sich im Gebet enthüllt.
