Die Dämmerung war hereingebrochen. Die Sonne, die erst vor kurzem hinter den fernen Hügeln verschwunden war, schien sich zu weigern, jenen kleineren Himmelskörpern, welche einer nach dem andern zum Vorschein kamen, auch nur für ein paar Stunden Platz zu machen. Die Farbenkontraste wurden immer weicher und es herrschte jene Abendstimmung, die den Gedanken so sehr anregt und die Phantasie, wenn man ihr freien Lauf läßt, auf leichten Fittichen ins Traumland trägt. Ich spazierte ruhig durch die Straßen meines Wohnorts, welcher auf einem der Hügel gelegen ist, die die Stadt Sydney und ihren prächtigen Hafen überblicken. Niemand außer mir schien die Schönheit des Orts zu schätzen, denn weit und breit war kein menschliches Wesen zu sehen. Ich mochte etwa eine halbe Stunde gegangen sein, als ich nicht weit von mir ein Kind bemerkte, das, an einen Gartenzaun gelehnt, sein Gesicht in den verschränkten Armen verbarg und heftig schluchzte.
Der freundliche Zuspruch und das sanfte Streicheln seitens eines Erwachsenen, der für das kindliche Gemüt allem Kummer und Ungemach enthoben war, flößten dem Knaben Vertrauen ein, und in weinerlichem Ton erklärte er mir die Ursache seines großen Leides. „Ich fürchte mich vor den Dingern dort am Boden,” sagte er. Ich schaute in der angedeuteten Richtung und sah, daß er mit den „Dingern dort am Boden” eine Anzahl dürrer Blätter meinte, die von einem nahen Baum gefallen waren und sich im sanften Abendwind leicht bewegten. Nun nahm ich den Knaben bei der Hand, und gemeinsam beschauten wir uns die dürren Blätter. Mein kleiner Freund sah ein, wie töricht er gewesen war zu glauben, daß Blätter jemandem ein Leid zufügen könnten. Auf dem Weg nach seinem nahen Elternhause plauderten wir über den Vorfall, und wir konnten jetzt über das „Abenteuer” herzlich lachen. Bevor wir uns trennten, versprach er mir, sich nie wieder vor dürren Blättern zu fürchten.
Indem ich über das kleine Erlebnis nachdachte, setzte ich meinen Spaziergang fort. Wie unbegründet war doch des Knaben Furcht gewesen! Etwas Lebloseres oder Harmloseres als jene armseligen Überbleibsel des Sommers kann man sich kaum vorstellen. Es war klar, daß nicht sie die Ursache der Furcht waren, wohl aber die Bilder, welche durch das Rascheln des Laubes in der Einbildung des Kindes hervorgerufen worden waren. Aber auch die Erwachsenen sind nicht frei von solcher Einfältigkeit, denn gerade damals war ich voller Angst wegen eines schwierigen Problems, dem ich seit einigen Wochen gegenüberstand. Und wie ich so nachdachte, wurde mir klar, daß die meisten unsrer Freunde, die meisten Leute, denen wir begegnen, ebenso voller Furcht sind wie der kleine Junge, den ich eben verlassen hatte. Die Furcht regiert den sterblichen Gedanken. Die Menschen fürchten sich voreinander, fürchten sich vor Krankheit, vor Armut, vor Unglück, vor dem Tod. Mit abgewandtem Gesicht und geschlossenen Augen zittern sie vor tausend Dingen, die sie vorauszusehen glauben und die, wie sie meinen, ihnen irgendein Leid zufügen werden. Und all dies trotz der beständigen Ermahnung des großen Lehrers, dessen Nachfolger wir uns nennen: „Fürchtet euch nicht!”
Es ist eine traurige Tatsache, daß jahrhundertelang sogar des Meisters erklärte Nachfolger diese Ermahnung übersahen, bis Mrs. Eddy die Wahrheit über die Dinge erkannte, welche den Menschen Furcht einflößen. Sie machte die Entdeckung, daß sie nichts als Vorstellungen des sterblichen Sinnes sind, Traumgebilde, welche die stärkste Überzeugung oder das bestimmteste Sinnenzeugnis nicht wahr zu machen vermag, denn sie besitzen weder Wesenheit noch Prinzip. Sie sah, wie die Welt voller Angst und Sorge war, gerade wie jener Junge, und von selbstloser Liebe angespornt und getragen widmete sie ihr Leben der Verbreitung der Wahrheit, die sie entdeckt hatte. Diese Wahrheit ist klar dargelegt im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift; sie ist ein Mittel gegen jede schreckenerregende Vorstellung, gegen jeden bösen Traum. Auf Seite 470 schreibt unsre Führerin: „Mit einem Vater, d. h. Gott, würde die ganze Familie der Menschen Brüder werden.” Wenn wir die Beziehung des wahren, geistigen Menschen zu Gott erkannt haben, dann bringen wir nicht mehr Furcht, Verdacht und Zweifel, sondern Vertrauen, Wohlwollen und Mildtätigkeit zum Ausdruck. Auf Seite 494 lesen wir des weiteren: „Die göttliche Liebe hat immer jede menschliche Notdurft gestillt und wird sie immer stillen.” In dem Maße, wie die Erkenntnis des Schutzes und der Fürsorge unsres himmlischen Vaters unser Bewußtsein erfüllt, werden Armut und Unglück und die Furcht davor verschwinden.
Sowie wir anfangen, Gott, das erhabene Gemüt, zu verstehen, fangen Sünde und Krankheit an zu verschwinden; und je mehr das geistige Verständnis zunimmt, desto mehr werden all diese Irrtümer, ja zuletzt selbst der Tod, ihrem wahren Wesen nach erkannt, nämlich als falsche Vorstellungen des sterblichen Sinnes, und diese Erkenntnis führt ihre vollständige Zerstörung herbei. Wenn wir die Übel des Fleisches im Lichte der ewigen Wahrheiten betrachten, flößen sie uns ebensowenig Furcht ein und schädigen uns ebensowenig, wie das dürre Laub den Knaben schädigen konnte, als es an jenem Herbstabend im Winde raschelte.
