Ein kleines Mädchen, dessen Mutter es sehr viel der Obhut einer gutherzigen aber unwissenden Kinderwärterin überlassen hatte, wurde in hohem Maße von dem Glauben an Gespenster erfüllt. Den schönen Wald in der Nähe des Elternhauses dachte sich das Kind als den Aufenthaltsort geheimnisvoller und bösartiger Geister, während jeder grüne Busch diesen Kobolden als Versteck zu dienen schien. Auch die Finsternis war in ihrer Vorstellung von unbekannten schrecklichen Feinden belebt, die ihr nachstellten, ja sie fürchtete sich so sehr, daß sie oft, wenn sie allein war, laut zu schreien begann.
Endlich entdeckte die Mutter die Ursache dieses Furchtgefühls, und in liebevoller Weise erklärte sie dem Kinde das Nichtvorhandensein solcher Wesen und wie unbegründet daher ihre Furcht sei. Das Vertrauen des Mädchens zu ihrer Mutter war so groß, daß sie ohne weiteres glaubte, was sie ihr von Gottes Allgegenwart und liebevoller Fürsorge erzählte; und jedesmal, wenn sich die alte Furcht wieder bemerkbar machen wollte, konnte sie dieselbe mit der vertrauensvollen Erklärung zurückweisen: „Es gibt keine Gespenster, denn meine Mutter hat es gesagt.” Mit dieser trostreichen Versicherung wurde alle abergläubische Furcht überwunden, und die Welt verwandelte sich für das Mädchen in eine mit Liebe und Schönheit erfüllte Stätte.
Dieser Gemütszustand hielt solange an, bis das Kind zum erstenmal in seinem Leben mit der Erscheinung des Todes in Berührung kam. Da die gute Mutter die Unbegrenztheit der Liebe des himmlischen Vaters doch nur in geringem Maße erkannt hatte, erhielt das Kind anstatt des Trostes einen Stein, der sich ihr schwer aufs Herz legte. Dieses Geschehnis, welches ihr als eine Schickung Gottes dargestellt wurde, schien ihr durchaus kein Werk der Liebe zu sein. Warum ließ Er die kleinen Kinder und ihre Mütter sterben, da sie doch so gerne leben und glücklich sein möchten? Wenn Er allmächtig war, warum erlaubte Er dem Satan, Macht über die Menschen zu haben? Warum vernichtete Er den Satan nicht? Diese Fragen bereiteten ihr viel Kummer; aber die Mutter hatte ihr versichert, daß ihre Erklärungen wahr und richtig seien, und so nahm sie denn in kindlichem Vertrauen aber mit betrübtem Herzen diese Entstellung der Liebe Gottes an. Jetzt aber trat ein neuer Schrecken an Stelle der Gespenster früherer Jahre. Das Kind fürchtete sich vor Gott, noch mehr aber vor jenem rätselhaften Wesen, dem Teufel.
So wuchs das Mädchen zur Frau heran. Sie behielt den Glauben an die zweifache Macht und betrachtete all die grausamen Erfahrungen, die ein Teil des Daseins zu sein schienen, als gesetzmäßig und unabwendbar. Der Wunsch, recht zu tun, war stets rege in ihr; aber es gab Zeiten, wo ihr das Böse in ihrem Bewußtsein nur allzu wirklich vorkam, und sie litt sehr unter dem Gedanken, daß der Satan trotz ihres Widerstrebens vielleicht ihren Willen beugen und sie Gott entreißen könnte. Es schien ihr eine hoffnungslose Aufgabe, sich gegen diese große, geheimnisvolle Macht aufzulehnen, welche selbst Gott nicht zu überwinden vermochte. Dann kam in das Leben dieser Frau ein überwältigender Kummer, und eine Krankheit, die sich gleichzeitig einstellte, war ihr beinahe willkommen, weil sie in ihr die Möglichkeit einer baldigen Erlösung von der Bürde des Lebens erblickte. Sie faßte alles als den Willen eines liebevollen Vaters auf und wartete geduldig auf den Tod, der sie von ihren Leiden erlösen sollte. Es war nun keine Mutter da, um sie zu trösten und zu ermutigen; aber in ihrem kindlichen Glauben machte sie Gott zu ihrem Freunde und vertraute auf Ihn, obgleich sie Ihn nicht verstehen konnte.
Durch solches Vertrauen findet die göttliche Liebe die Ihrigen, wenn diese auch von Finsternis umgeben sind. In zärtlicher Sorgfalt hielt der gute Hirte dieses Lamm in seinen Armen und trug es auf den sicheren Pfad. Der Leidenden wurde das Buch Wissenschaft und Gesundheit in die Hand gegeben, und die Stimme der Liebe flüsterte ihr zu, sich an diesem Manna zu sättigen. Sie gehorchte der Weisung und fand infolgedessen eine Antwort auf all die schwierigen Fragen ihrer Kindheit sowie Trost für den Kummer der reiferen Jahre. Mit Verwunderung las sie die Stelle: „Das unsterbliche Gemüt ist die einzige Ursache; daher ist Krankheit weder eine Ursache noch eine Wirkung. Gemüt ist in allen Fällen der ewige Gott, das Gute. Sünde, Krankheit und Tod haben keine Grundlagen in der Wahrheit” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 413). Was waren denn, so fragte sie sich, all die Formen des Bösen, die ihr so große Furcht eingeflößt hatten? Waren sie wirklich nichts weiter als Gespenster gewesen? Und als sie erkannte, daß dem wirklich so war, konnte sie mit dem Vertrauen ihrer Kindheit erklären: „Es gibt keine Gespenster, denn mein Vater-Mutter Gott hat es mir gesagt.” Das schwerbeladene Herz fand nun Trost, Ruhe und Frieden in der ewigen Schönheit des Weltalls des Geistes — da, wo es nichts gibt, was betrüben oder ängstigen kann.
„Tröstet, tröstet mein Volk!” Also sprach der Prophet Jesaja, den Willen Gottes verkündigend; und in Erfüllung dieses Auftrags ist der Welt heute die Christliche Wissenschaft geoffenbart worden. Ihre Lehren beseitigen all das Geheimnisvolle, das sich wie ein Nebel zwischen Gott und Seine Kinder zu drängen scheint. Sie offenbaren die Grundlosigkeit der Furcht, vernichten dadurch ihre Wirkung und geben uns ein festeres Vertrauen auf Gott als unendliche Liebe. In der Tat erfüllt diese Wissenschaft die Verheißung des Vaters: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet;” und glücklich ist der Mensch, der dieses herrliche Wort „als ein Kindlein” annimmt und dadurch Frieden erlangt.
