Man muß sich heutigestags oft fragen, warum es christlich gesinnten Leuten unglaublich erscheint, daß das Gesetz und die Macht des göttlich Guten zur Überwindung jeder Art des Bösen angewandt werden kann. Warum solche Zweifel? Jeder aufmerksame Leser des Neuen Testaments, namentlich des historischen Teils, kann eine Fülle von Belegen dafür finden, daß zur christlichen Religion, wie sie durch ihren Begründer und die ursprünglichen Christen ausgeübt wurde, die Befreiung der Menschen aus den Banden der Krankheit gehörte. Und obwohl das Neue Testament zum größten Teil viele Jahre nach dem persönlichen Wirken Jesu geschrieben wurde, so enthält es doch nichts, was erkennen ließe, daß die Heiltätigkeit aufgehört hatte, noch ist ein Grund angegeben, warum eine solche Tätigkeit aufhören sollte. Im Gegenteil, es finden sich im Neuen Testament immer wieder Hinweise darauf, daß die Heiltätigkeit ein fortdauernder Dienst und ein Merkmal oder Kennzeichen des christlichen Wirkens ist.
Warum hörte nun das christliche Heilen auf? Und warum stößt seine Wiedereinführung auf Widerstand? Auf beide Fragen gibt es nur eine Antwort: Weil das dem Heilungswerk zugrundeliegende Prinzip nicht als etwas von der Person Getrenntes erkannt wird, und weil das menschliche Denken, selbst das religiöse, einer materiellen Anschauungs- und Vorstellungsweise zuneigt. Diese Neigung und das Festhalten an konfessionellen Anschauungen und Erwägungen ist schuld daran, daß die Wissenschaft des christlichen Heilens nicht überall willkommen geheißen wird.
Als Erläuterung zu diesen Bemerkungen kann ein Aufsatz dienen, der unlängst in der Zeitschrift einer christlichen Konfession erschien. Der Titel lautete: „Eine Rede und einige Briefe,” und der Nebentitel war: „Eine Prüfung der von Senator Works dem Senate der Vereinigten Staaten gelieferten Belege für einige durch die Christliche Wissenschaft bewirkte Heilungen.” Diese „Prüfung” bestand in einer Anfrage an acht von den neunundsechzig Ärzten, deren Namen Senator Works angegeben hatte. Einer dieser Ärzte, an die diese Frage erging, ließ nichts von sich hören. In diesem Fall handelte es sich um ein Kind, das von Geburt an so abnorm war, daß es nach Ansicht mehr als eines Arztes nie würde gehen können und unheilbar blödsinnig war. Alle, die den Zustand des Kindes kannten, sahen die Veränderung ganz deutlich, die in physischer wie in geistiger Beziehung infolge der christlich-wissenschaftlichen Behandlung eintrat. Die Washingtoner „Times“ beschrieb die Kleine neulich als „ein dreiundeinhalbjähriges Kind, das ebenso froh und munter spielt und umherläuft wie seine Spielgefährten.”
Ein andrer Arzt, an den sich der obenerwähnte Redakteur wandte, antwortete, er habe keine Notizen über den betreffenden Fall, auch könne er sich eines solchen nicht erinnern. Nachdem ihm Zeit und Ort der Untersuchung der Patientin sowie die Namen der dabei anwesenden Personen angegeben worden waren, fand er in seinem Notizbuch eine diesen Umständen entsprechende Eintragung. Er war nur zur Beratung zugezogen worden und hatte daher sein Gutachten über den Fall nicht vermerkt. Ein andrer beratender Arzt untersuchte die Patientin mit demselben Hausarzt etwa zwei Jahre später. Das Mädchen war etwa dreizehn Jahre alt, als im Februar 1908 die letzte Konsultation stattfand. Damals lautete die Diagnose auf Herzklappenfehler, und die Ärzte sagten, die Patientin werde höchstens noch ein Jahr leben. Ihre Mutter schreibt über den Fall wie folgt: „Im April 1908 wandten wir uns der Christlichen Wissenschaft zu, und nach drei- bis vierwöchiger Behandlung war mein Kind auf, lief umher, und ihr Verhalten war in jeder Beziehung das eines gesunden Kindes. Die blasse kleine Kranke ist zu einer schönen Jungfrau herangewachsen. Sie unternimmt lange Fußtouren, schwimmt ausgezeichnet, tanzt ohne Anstrengung zu verspüren und geht jeden Tag ins Geschäft. Man muß sich freuen, wenn man sie nur ansieht.” Der Vater dieses Mädchens ist ein wohlbekannter Mann, beratender Ingenieur von Beruf und Mitglied der Legislatur des Staates Massachusetts.
Ein andrer Arzt, an den vom selben Redakteur eine Anfrage erging, antwortete, seine Diagnose hätte nicht auf Krebs sondern auf Krebsgeschwulst gelautet, gab aber gerne zu, daß es auf den Unterschied nicht weiter ankomme. Als er die Patientin sah, sagte auch er, es sei in ihrem Zustand „eine wunderbare Besserung” eingetreten. Was die Antworten der andern fünf Ärzte betrifft, so darf man wohl sagen, daß sie ein mehr oder weniger eifriges Bestreben erkennen ließen, die durch die Christliche Wissenschaft bewirkten Erfolge zu schmälern. Ohne weitere Prüfung kam dann der besagte Redakteur zu folgendem Schluß: „Daß durch die Christliche Wissenschaft Heilungen bewirkt werden, glauben nur solche Menschen, deren Denken nicht analytisch genug ist, um Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten, und deren Voreingenommenheit für die Religion, zu der sie sich bekennen, sie unfähig macht, den Zusammenhang der Dinge klar zu sehen.”
Als Kommentar zu dieser Schlußfolgerung sei gesagt, daß die Verfasser des Neuen Testaments, welche von Heilungen auf christlichem Wege berichten, das Zeugnis der Geheilten annahmen. Manche von den Kranken waren von Ärzten behandelt worden, doch weder nach Ansicht des Meisters noch der Verfasser der Evangelien war es nötig, das Ergebnis des geistigen Heilverfahrens von Vertretern der entgegengesetzten Methoden bestätigen zu lassen. Es wäre deshalb nur vernünftig, dem Zeugnis der Personen zu glauben, über deren Fälle Mr. Works berichtet. Was nun geistige Fähigkeit betrifft, so sei hervorgehoben, daß dieser Herr und einer der Zeugen Senatoren der Vereinigten Staaten sind und in ihrem Amt, das doch gewiß die Fähigkeit fordert, Beweisgründe zu wägen, entschiedene Erfolge aufzuweisen haben. Einer der andern Zeugen war Richter am Obergericht von Kalifornien, ein andrer Oberstaatsanwalt des Staates Minnesota. Von den übrigen Zeugen hat einer seine Ausbildung auf der Akademie zu West Point erhalten und ist seinem Rang nach Major in der amerikanischen Armee. Ein andrer hat seine Studien auf einer wohlbekannten medizinischen Schule absolviert, war seinerzeit Chirurg an einem Hospital und wirkte daselbst als Dozent. Ein andrer Zeuge ist Mitglied des Verwaltungsrates einer Hochschule, ein andrer ist Großhändler in Kolonialwaren. Ein andrer ist Richter an einem Obergericht, und einer hat ein solches Amt früher bekleidet. Ein weiterer Zeuge ist Schullehrer, und ein andrer war berufsmäßiger Krankenwärter und avancierte zum ersten Nacht-Krankenwärter in einem großen Hospital. Dies sind nur einige der Empfänger von Wohltaten durch die Christliche Wissenschaft, die über ihre eigne Heilung berichteten und Senator Works gestatteten, von ihren Berichten Gebrauch zu machen. Wenn das Denken solcher Menschen „nicht analytisch genug ist, um Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten,” oder wenn sie unfähig sind, „den Zusammenhang der Dinge klar zu sehen,” so muß man folgern, daß es nur sehr wenige Menschen gibt, auf deren Intelligenz man sich verlassen kann.
Die praktische Anwendung der Erkenntnis von geistiger Ursächlichkeit zur Wiederherstellung und Erhaltung der Gesundheit würde nicht als etwas Verfehltes oder Unmögliches angesehen werden, wenn man Gesundheit wie Krankheit vom metaphysischen Standpunkt aus betrachtete. Im Lichte einer solchen Betrachtung erscheinen nicht nur Krankheit und Gesundheit, sondern auch Sterblichkeit und Unsterblichkeit als entgegengesetzte Gemütszustände oder als Zustände des Bewußtseins, die durch entgegengesetzte Denkarten entstehen. Auf der einen Seite haben wir den materiellen Sinn, der kein Prinzip, keine Ursache oder Substanz hat und nur eine Illusion ist, ein Traum über Schmerz und Lust in der Materie, wozu Sünde, Krankheit und Tod gehören, auf der andern Seite den geistigen Sinn, der von Gott, dem göttlichen Prinzip alles wahren Seins, geschaffen und erhalten wird. Was Paulus hierüber an die Römer schreibt, ist sowohl christlich wie wissenschaftlich: „Fleischlich gesinnet sein ist der Tod, und geistlich gesinnet sein ist Leben und Friede.” Mit diesen Worten sagt er ganz deutlich, daß das Leben ein Gedanken- oder Geisteszustand ist; er betrachtet Ursächlichkeit als etwas völlig Metaphysisches. Der Sinn, der krank wird und stirbt, ist fleischlich, d.h. materiell, während der Sinn, der lebt und die Fülle der Eigenschaften des Lebens genießt, geistig ist, d. h. von Geist, Gott, hervorgerufen oder beherrscht wird. Mit andern Worten, Geist, Gott, gibt dem Menschen Leben, Gesundheit und Glück, und diese Dinge sind Bewußtseinszustände.
Gesundheit ist daher in erster Linie eine mentale, eine geistige Eigenschaft und muß als solche erlangt und erhalten werden. Krankheit hingegen, selbst das in seiner Äußerung durchaus physische Übel, ist der greifbare Beweis einer irrigen Vorstellung. Sie begleitet die Annahme, daß der Mensch eine materielle Selbstheit sei, die von einem Gesetz des Leides, des Verderbens und Todes regiert wird — von Gesetzen, die die göttliche Liebe, das göttliche Prinzip niemals schaffen könnte. Jede Äußerung mangelnder Gesundheit ist ein subjektiver Zustand des sterblichen Denkens, ein Ergebnis des falschen und sterblichen Elements im menschlichen Bewußtsein. Sie ist eine Folge der allgemeinen Annahme, daß Leben der Materie innewohne und sterblich sei.
Die wissenschaftliche Behandlung von Krankheit beruht also auf der Unterscheidung zwischen absolutem oder wirklichem Sein und der menschlichen oder sterblichen Vorstellung vom Sein. Das Freisein von Krankheit folgt der absoluten Erkenntnis der Wahrheit über Gott und den Menschen. Um Krankheit mit Erfolg zu bekämpfen, muß man sie in irrige Vorstellungen auflösen und sich dann geistig mit ihr befassen, dem göttlichen Gesetz gemäß, kraft dessen die Wahrheit den Irrtum aufhebt. Heilung erfolgt, wenn das vermeintliche Gesetz der Krankheit und des Todes durch das wirkliche Gesetz des Lebens beseitigt wird. Und auf Grund der Einheit des Seins kann ein Mensch dem andern zu diesem Sieg verhelfen. Auf diese Weise macht die Christliche Wissenschaft den idealen Gottesdienst praktisch möglich, den Jesaja mit den Worten forderte: „Laß los, welche du mit Unrecht gebunden hast; laß ledig, welche du beschwerest; gib frei, welche du drängest; reiß weg allerlei Last.”
Die Sinnenwelt ist nur Erscheinung einer geistigen Wirklichkeit.
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