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Splitter und Balken

Aus der Juni 1916-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Eine der Auffälligkeiten des irdischen Daseins besteht darin, daß die Menschen sehr dazu geneigt sind, an andern Besserungsversuche zu machen, ehe sie sich selbst gebessert haben. Des Nächsten Fehler kommen einem gewöhnlich viel größer und wirklicher vor als die eignen, und man macht sich gern an die Berichtigung derselben, ohne die Anforderungen der göttlichen Weisheit und Gerechtigkeit zu berücksichtigen. So bewahrheitet sich oft bei unwissenden oder übereifrigen Leuten das Sprichwort, daß Narren mehr wagen als Helden. Sie verursachen denen, die sich ernstlich bemühen, ihre Probleme auf ihre eigne Art zu lösen, große Schwierigkeiten.

Jesus wendet das treffende Bild vom Splitter und Balken an, um diese unverzeihliche Schwäche der Sterblichen zu tadeln. Er sagt: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge? Du Heuchler, zeuch am ersten den Balken aus deinem Auge; darnach besiehe, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest!” Für den, der ein Nachfolger Christi, der Wahrheit, sein will, gibt es wohl keine wichtigere Lehre. Man kann die Neigung, Fehler in andern zu suchen, nicht scharf genug verurteilen. Sie ist dem Menschengeschlecht ein Fluch, ja ihr Vorhandensein und ihre Befriedigung ist ein Beweis, daß die Sterblichen nicht Gottes Kinder sind, denn „wer von Gott geboren ist, der sündiget nicht.”

Der Meister sagt uns, wie man diese widerwärtige Gewohnheit überwinden kann, und die Christliche Wissenschaft besteht darauf, daß es geschehe. Die Vorschrift lautet: „Zeuch am ersten den Balken aus deinem Auge.” Ein Balken ist ein gar gewichtig Ding im Vergleich zu einem Splitter. Dies deutet an, daß wir sehr dazu geneigt sind, die Fehler unsres Nächsten in vergrößerter Form zu sehen. Haben wir diese Fehler erst aus unserm eignen Bewußtsein verbannt oder auf ihre ursprüngliche Nichtsheit zurückgeführt, so erscheinen sie im Mitbruder als eine kleine Sache. Dies ist somit die einzig richtige Art und Weise, den Irrtum auszurotten.

Wenn sich ein Hilfsbedürftiger der Christlichen Wissenschaft zuwendet, so besteht die Arbeit des ausübenden Vertreters darin, sich die Unwirklichkeit des Übels zu vergegenwärtigen, wie dasselbe auch heißen möge. Erkennt der ausübende Vertreter das Zeugnis der materiellen Sinne an, so wird das Übel als ein Balken erscheinen, und er wird dem Patienten nicht zu helfen vermögen. Widersteht er aber sofort dem Sinnenzeugnis und stimmt er mit dem geistigen Sinn überein, so wird für ihn der Irrtum bald nicht mehr sein als ein Splitter. Diese Fähigkeit, die Nichtsheit oder Unwirklichkeit des Übels zu erkennen, bekundet ein Bewußtsein, welches heilt; es ist die einzig christlich-wissenschaftliche Denkweise. Man muß sie zu jeder Zeit und unter allen Umständen behaupten. Wer dies tut, betrachtet das Übel ebensowenig als eine Wirklichkeit, wie unser Meister es tat. Wer unaufhörlich nach diesem heilenden Bewußtsein strebt, wird nicht Gefahr laufen, den Irrtum zu personifizieren, handle es sich nun um Sünde oder Krankheit, sondern er wird lernen, wie der Splitter aus des andern Auge zu ziehen ist. Ist einmal der Balken entfernt, so wird das Auge den Irrtum im Mitmenschen nicht persönlich machen oder vergrößern.

Der Irrtum ist nie aufgedeckt, solange man ihn als einen Balken sieht. Ihn in andern als etwas Wirkliches betrachten, heißt nicht, ihn mit einem Gefühl der Vergebung aufdecken. Gar zu oft wird er in grausamer Weise vor den Augen eines Feindes zur Schau gestellt. Man muß ihn in der eignen Anschauung zum Splitter reduzieren, bevor man ihn vor andern liebevoll aufdecken kann. Dies gilt in bezug auf Irrtum jeder Art. Hat jemand ein großes Unrecht erfahren, so muß er erst mit dem Balken in seinem eignen Auge ringen und ihn bewältigen, bevor er die Macht der göttlichen Liebe anwenden kann, um den Irrtum in einem andern zu berichtigen. In der Hitze der Leidenschaft und des Grolls jemandem die Fehler eines andern aufzuzählen, ist durchaus unzulässig; es ist mentale Gesetzlosigkeit. Der übereifrige Kritiker oder Reformer sollte es sich ja überlegen, bevor er die Fehler seines Mitmenschen zu verbessern sucht. Er muß sich vergewissern, daß er nicht nur öffentliche oder offizielle Bloßstellung des Übels bezweckt, sondern auch die christliche Aufdeckung und Vernichtung desselben. Ist einmal der Balken aus dem eignen Auge entfernt, so bleibt in der Regel nur noch wenig zu tadeln übrig, denn man ist alsdann imstande, den Splitter aus des Nächsten Auge zu ziehen, d. h. ihn wissenschaftlich aufzudecken. Paulus sagte: „Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der da richtet. Denn worinnen du einen andern richtest, verdammst du dich selbst; sintemal du eben dasselbige tust, das du richtest.”

Unser Meister verrichtete sein großes Werk für die Menschheit erst in seinem eignen Bewußtsein. Dies ist aus den trostreichen Worten an seine Nachfolger zu ersehen: „Seid getrost, Ich habe die Welt überwunden!” Er hatte jene falsche, materielle Vorstellung von der Welt besiegt, die göttlich-wirklich zu sein beanspruchte. Deshalb enthielt er sich des Richtens und Verdammens; deshalb konnte er andern zeigen, wie man sich selbst richten muß, d. h. wie man von sich selbst erlöst werden kann. Befindet sich ein Sterblicher in irgendeiner Schwierigkeit, so ist diese Erlösung von sich selbst sein größtes Bedürfnis, denn er ist fest überzeugt, daß er das Übel sei oder wenigstens ein großer Teil desselben. Hat er einsehen gelernt, daß das Böse nicht ein Bestandteil des wahren Menschen ist, sondern eine Falschheit oder Unwirklichkeit des sogenannten sterblichen Gemüts, so wird er nicht nur geheilt sein, sondern er wird auch imstande sein, andern zu zeigen, wie sie aus ihren Schwierigkeiten herauskommen können. Solange er den Splitter in seines Bruders Auge betrachtet, verwirkt er des Menschen gottverliehene Fähigkeit, zu heilen, und legt dem Nebenmenschen dadurch nur Hindernisse in den Weg. Wer dem Christus, der Wahrheit, nachfolgen will, darf nicht vergessen, daß sein Werk darin besteht, die Welt zu retten, nicht sie zu verdammen. Und der einzige Weg, jemanden zu heilen, besteht darin, daß man sich an das einem innewohnende Gute wendet. Das Übel zu bekämpfen, von welchem man erlöst werden muß, oder es durch selbstsüchtige menschliche Verfahrungsweisen bloßstellen zu wollen, bringt keine Heilung und Erlösung. Oft hindert dies nur unsern Fortschritt himmelwärts, es sei denn, wir kennen die Wahrheit, welche vor der Gesetzlosigkeit des Neids, des Hasses und der Rache schützt.

Nur durch selbstlose Liebe können wir das Herz der Menschen erreichen und der Welt Freude und Frieden bringen. Die Welt schmachtet nach der Liebe, die da „rechnet das Böse nicht an.” Liebe erregt nie in uns den Wunsch, Böses in unsern Mitmenschen zu sehen. Sie sucht stets das Gute und findet es daher auch. Sie drängt sich nirgends als Richter auf und ist doch der einzige Richter des Weltalls. Ihr Urteil ist wahr, denn sie sieht den Menschen stets als das Bild und Gleichnis Gottes. Dieser Mensch hat weder einen Balken noch einen Splitter im Auge, denn er spiegelt das Wesen seines Schöpfers wieder. „Die holde Anmut der Liebe” kommt durch „Zurechtweisung der Sünde, in wahrer Brüderlichkeit, in Wohltätigkeit und Versöhnlichkeit” zum Ausdruck (Kirchenhandbuch, Art. VIII, Abschn. 1). Die Liebe allein deckt die Nichtsheit des Irrtums auf, denn sie kann das Übel weder denken noch sehen. Sie strahlt einfach Liebe aus, und die Liebe ist das Licht, das die Dunkelheit verscheucht. In dem Maße, wie das menschliche Bewußtsein seinen Glauben an die Wirklichkeit des Bösen aufgibt, erkennt es seine Fehler an, und die Vorstellung von dem Balken und dem Splitter weicht dadurch nach und nach dem Verständnis des Christus, der Wahrheit.

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