Moses scheint der erste Mensch gewesen zu sein, der die Tatsache erkannte und überzeugungskräftig veranschaulichte, daß es nur ein Ego, nur ein Ich gibt. Gott war für ihn der große „Ich bin, der ich bin” (Zürcher Bibel). Er wußte, daß der Mensch, sobald er den göttlichen Willen erfüllt und die Führung des Allmächtigen sucht, den Unendlichen wiederspiegelt.
Von Moses wird gesagt, er sei einer der demütigsten Menschen gewesen. Damit ist gemeint, daß er bei seinem großen Werk der Befreiung seines Volkes aus der Gefangenschaft in Ägypten sein eignes Ich ganz beiseite setzte und vor jedem Schritt, den er unternahm, die Führung des allmächtigen „Ich bin” suchte. Wie klar er auch selbst diese grundlegende Wahrheit erfaßte, so hatte er doch ein widerspenstiges und unwissendes Volk mit passender Nahrung zu speisen. Das moralische Gesetz, das er unter göttlicher Eingebung schrieb, entrückte die Israeliten dem Treibstock des ägyptischen Zuchtmeisters und ermöglichte ihnen den ersten Schritt in der Richtung des ewigen Gemüts.
Am Ende seines Lebenswerkes angelangt, wiederholte Moses mit einem von Lob und Dank erfüllten Herzen die Tatsache des einen, absoluten Egos: „Sehet ihr nun, daß Ich’s allein bin und es ist kein Gott neben nur!” Sieben Jahrhunderte später sprach Jesaja zu einem Volk, das inzwischen Zucht und Ordnung gelernt hatte: „Ich, Ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht.”
Auf Seite 588 von Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift gibt uns Mrs. Eddy die folgende Definition von „Ich oder Ego”: „Das göttliche Prinzip; Geist; Seele; unkörperliches, unfehlbares, unsterbliches und ewiges Gemüt.” Diese fundamentale und alles umfassende Erklärung des Unendlichen wird immer und immer wieder als der Kern der Metaphysik hervorgehoben. Sie ist die grundlegende Wahrheit alles dessen, was unsre Führerin lehrt, ja der Probierstein, mit dem die ganze Lehre der Christlichen Wissenschaft geprüft werden kann.
Vom ersten Moment an, wo Mrs. Eddy die Tatsache von der Allheit Gottes und des Menschen als Seiner Wiederspiegelung erkannt hatte, war es ihr unaufhörliches Bestreben, die Menschheit aus den Banden der Annahme, daß es viele Gemüter gebe, zu befreien und sie in das reine Licht des einen Egos zu führen. Aus ihren Schriften, aus den Berichten über ihre unablässige Tätigkeit zur Verbreitung der Christlichen Wissenschaft, aus dem wunderbaren Fortschritt, den das von ihr begonnene Werk gemacht hat, und aus dem Umstand, daß Tausende von intelligenten Menschen ihrer Führung folgen, geht klar hervor, daß jeder Schritt auf dem von ihr entdeckten Weg, der von den Banden des materiellen Sinnes in die Freiheit der Seele führt, das Ergebnis von Selbstverleugnung war. Sie suchte stets die Führung des einen und einzigen Gemüts und weigerte sich, etwas ihm Entgegengesetztes anzunehmen oder demselben zu gehorchen.
Ein wichtiger Punkt, den wir im Trachten nach einem höheren Verständnis der großen Wirklichkeit berücksichtigen müssen, ist die Unabhängigkeit der Wahrheit von der Sprache. Der geistige Sinn allein ist imstande, das Absolute zu erfassen. Erst muß eine gründliche mentale Umwandlung stattfinden, ein Loslassen von materiellen Annahmen, bevor der blinde Glaube zur Empfänglichkeit für das Einströmen der Wahrheit in das Bewußtsein heranreifen kann. Hierin liegt das Wesen der Offenbarung. Wie durchaus unabhängig von irgendeiner Sprache oder Redeweise ist doch das geistige Verlangen, welches das Beten ausmacht! Unsre Erfahrungen im täglichen Leben beweisen das fortwährend. Durch die ganze Heilige Schrift hindurch ist diese Tatsache erkennbar, vom einfachen Opfer Abels an bis zu den anschaulichen Beweisen der Apostel.
Wo und wann auch immer sich eine Gelegenheit fand, dem Wort Gottes Ausdruck zu geben, mußten zuerst die Gemüter darauf vorbereitet sein, die Botschaft zu empfangen. Die sanfte Stimme der Wahrheit ist dem Bewußtsein vernehmbar, das durch Kummer und Leid, durch ernstes Verlangen nach Heiligkeit oder durch wahre Reue geläutert worden ist. Derjenige, der das Wort der Wahrheit hört, mag den wörtlichen Sinn nicht völlig erfassen; aber der empfängliche Sinn nimmt den Geist in sich auf, welcher durch Worte zum Ausdruck kommt.
Wir wissen, daß dem richtigen Gedanken eine richtige Tat folgt. Der Psalmist erklärt die ewige Tätigkeit des Guten, wenn er sagt: „Der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht.” Im Verhältnis, wie wir unser Selbst verleugnen, werden wir die gottgegebene Herrschaft wiederspiegeln und die göttliche Energie des Geistes an den Tag legen. Mrs. Eddy sagt auf Seite 118 von „Miscellaneous Writings“: „Der Kampf mit dem eignen Selbst ist herrlich.” Es ist in der Tat ein erhabenes Überwinden, und obschon der Zweck nach einer oder hundert Schlachten noch nicht erreicht ist, so schwächt doch jedes aufrichtige Ringen nach dem Sieg den Anspruch auf ein eignes Selbst und bringt die allumfassende Selbstheit des einen Ego in ein helleres Licht.
Indem Jesus auf seine in des Vaters Namen verrichteten Werke als auf Zeugen hinwies, bewies er klar und deutlich, daß alles, was er tat, von Gott kam; und auf Grund dieses vollkommenen Verständnisses der geistigen Wiederspiegelung konnte er sagen: „Ich und mein Vater sind eines.” Auf Seite 281 von Wissenschaft und Gesundheit lesen wir: „Der Ego-Mensch ist die Wiederspiegelung des Ego-Gottes.” Die Suggestion der Sterblichkeit ist das Ergebnis der Annahme, daß es mehr als ein Gemüt gebe. Ob sie nun von außen zu kommen scheint, indem sie unsre Mitmenschen als Werkzeug benützt, oder ob sie unserm eignen Bewußtsein entspringt: der Irrtum will stets die Allmacht Gottes leugnen. Die Haupteigenschaft der Suggestion ist ihre Verschlagenheit. Die Lüge behauptet wahr zu sein, und das Böse erscheint in der Verkleidung des Guten. Deshalb müssen die Christlichen Wissenschafter stets auf der Hut sein. Eva aß von der verbotenen Frucht, weil dieselbe gut zu essen und lieblich anzusehen war, und weil sie klug zu werden wünschte. Sie handelte also scheinbar nach ihrem besten Wissen, aber ihre Sünde lag darin, daß sie das als wahr anerkannte, was in direktem Widerspruch zu Gottes Schöpfung stand.
In gleicher Weise trachtet auch das Persönlichkeitsgefühl in unsre Mitte zu kommen. Sein Erscheinen ist so heimtückisch, daß, wenn es nicht sofort erkannt und zerstört wird, es den Gedanken des Christlichen Wissenschafters umnebelt, und dieser sieht dann nicht ein, daß das Hindernis in seinem erhabenen Selbstgefühl oder in seiner Neigung zum Ungehorsam besteht. Auf diese Weise wird er das Werkzeug der Lüge, die die Allwissenheit und Allgegenwart Gottes in Abrede zu stellen sucht, indem sie dem Menschen einflüstert, er sei mit eigner Gerechtigkeit bekleidet. Nichts kann uns in schwachen Stunden vor der Heimtücke dieses Irrtums beschützen als der beständige Wunsch, getreue Nachfolger der Christuslehre zu sein, sowie das ununterbrochene Beten um Sanftmut und Demut — Eigenschaften, die in der Tat dem Geist entspringen.
Das Persönlichkeitsgefühl mag versuchen, in unserm Bewußtsein Fuß zu fassen, indem es auf einen bestimmten Christlichen Wissenschafter weist und dessen Arbeit als persönliches Verdienst darstellt. Dadurch erschweren wir nur unsers Mitbruders Arbeit. Wir können alle dazu beitragen, dieses schlangenartige Persönlichkeitsgefühl von uns sowohl als von unsern Mitmenschen fernzuhalten, indem wir beständig das eine Ich oder Ego vor Augen behalten. Ein höheres Verständnis, „mitfolgende Zeichen,” ein klarerer Begriff vom Leben und der Liebe, sowie das Erkennen der Wahrheit, die uns frei macht, sind in keiner andern Weise zu erlangen. Der Vater ist es, der in uns wirket; „der Sohn kann nichts von ihm selber tun.”
