Das Gleichnis vom verlorenen Sohn ist so allgemein anwendbar, daß es mit Recht die Perle aller Gleichnisse genannt worden ist. Es bildet die Grundlage zu mehr Predigten und schriftlichen Erörterungen als alle andern Gleichnisse des Meisters. Es legt die Verkehrtheit des sterblichen Menschen dar, lehrt die ununterbrochene, unveränderliche Liebe Gottes und weist auf die Erfordernisse hin, die zur Rückkehr ins Vaterhaus, in das Bewußtsein des unendlichen Guten notwendig sind. Für den Schüler der Christlichen Wissenschaft ist dieses Gleichnis besonders interessant und nutzbringend, denn er hat gelernt, dessen praktische Lehren im täglichen Leben in Anwendung zu bringen.
Die Christliche Wissenschaft fordert „als Basis des Gedankens und der Demonstration ein vollkommenes Prinzip und eine vollkommene Idee — einen vollkommenen Gott und einen vollkommenen Menschen” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 259). Der Mensch ist zu Gottes Bild und Gleichnis geschaffen, und da in Gott kein Element des Bösen ist, so kann auch das göttliche Spiegelbild nichts Böses enthalten. Gott ist nicht der Schöpfer des Bösen; somit hat das Böse keine wahre Wesenheit, sondern es ist das Ergebnis einer falschen Annahme. Auf dieser Grundlage muß das Böse erkannt und überwunden werden. In der Christlichen Wissenschaft erfahren unser Begriff vom Bösen und unsre Stellung zu demselben einen großen Wechsel; und solange der Schüler dieser Wissenschaft mit ihren grundlegenden Wahrheiten nicht vertraut ist, wird er nicht imstande sein, dem sterblichen Glauben an die Wirklichkeit und Macht des Bösen richtig zu begegnen. Darin liegt wohl der Grund, warum es so viele falsche Ansichten gibt über das Maß der Aufmerksamkeit, das man dem Bösen schenken soll.
In der Christlichen Wissenschaft bezieht sich der Ausdruck Irrtum auf alles, was böse ist. Irrtum ist das, was nicht wahr ist. Ist einmal das Verständnis vorhanden, daß das Böse nicht wahr ist, so sieht man ein, daß die Erkenntnis dessen, was wahr, was absolut wirklich ist, den Glauben an das Böse in wirksamer Weise zerstört. Der richtige Begriff vom Guten offenbart bisher unerkannte Möglichkeiten und verleiht die Fähigkeit, dem Übel in verständnisvoller Weise entgegenzutreten. Eine irrige Vorstellung bleibt stets eine Vorstellung, ob sie sich nun als Krankheit oder als Sünde kundtut. Eine falsche Annahme unbeachtet lassen bedeutet oft, daß man ihr frönt, und dies kann nur die Verlängerung ihrer vermeintlichen Existenz zur Folge haben. Alle Menschen müssen gegen den Glauben an die Wirklichkeit des Bösen Stellung nehmen und ihn überwinden. Sie müssen erkennen lernen, was von ihnen verlangt wird, und dann ihre Arbeit gewissenhaft verrichten.
Eine der wichtigsten Lehren, die dieses Gleichnis enthält, ist die, daß die Sterblichen alle ihre Fehler erkennen müssen. Eine falsche Vorstellung von dem Wesen eines harmonischen Lebens trieb den Sohn aus seines Vaters Haus in ein fremdes Land. Als er aber seinen Irrtum einsah, „schlug er in sich” und kam zu dem Entschluß, zu seinem Vater zurückzukehren mit der Bitte, ihn als Tagelöhner wieder in sein Haus aufzunehmen. Er wollte sich in keiner Weise rechtfertigen. Nichts hatte er zu sagen als: „Ich habe gesündiget.” Diese richtige Haltung gegenüber seinen Fehlern machte seine Heilung und Wiedereinsetzung zur Sohnschaft möglich. Eine teilweise Anerkennung seines Irrtums und ein dementsprechend schwacher Versuch, seine Irrwege zu verlassen, hätte ihm wohl zu der Stellung eines Tagelöhners verholfen; aber nichts als das demütige Geständnis seiner Sünden und der aufrichtige Wunsch, von denselben befreit zu werden, vermochten die vollständige Versöhnung mit dem Vater herbeizuführen.
Sowohl die Bibel wie auch die Christliche Wissenschaft lehrt ausdrücklich, daß das Böse erst erkannt werden muß, bevor es überwunden werden kann. Der weise Salomo schrieb: „Wer seine Missetat leugnet, dem wird nicht gelingen; wer sie aber bekennet und läßt, der wird Barmherzigkeit erlangen.” Des Johannes bestimmte Vorschrift an diejenigen, die es für möglich halten, das Gute zu erlangen, ohne erst die Fehler in der menschlichen Denkweise zu erkennen, lautet: „So wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns;” und er, der wie kein andrer die Fähigkeit bewies, das Böse in jeder Gestalt zu überwinden, sagte: „Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht pflanzte, die werden ausgereutet;” mit andern Worten: Ein jeder Gedanke, der nicht dem göttlichen Gemüt entspringt, muß als böse erkannt und abgewiesen werden.
Das Böse enthält nichts Gutes, noch gibt es Gutes im Bösen. Das ist keineswegs bloße Theorie, sondern beweisbare Wissenschaft. Wenn die Annahme nicht wäre, als schließe das Böse Gutes in sich, dann würde kein Sterblicher in der Ausübung des Bösen Genugtuung finden. Deshalb ist es so notwendig, daß man erkennen lerne, in welchem Punkt man gefehlt hat. Wer sich zu rechtfertigen sucht, läßt sich mit dem Bösen in Unterhandlungen ein und macht dadurch seinen Sieg über dasselbe unmöglich. Hat er dem Bösen gefrönt, so muß er dies bekennen und die falschen Ansprüche des Bösen aufdecken, damit dessen wahre Natur zum Vorschein komme. Der wahrhaft reumütige Mensch hat keine Furcht mehr vor der Verdammung des Irrtums seitens der Wahrheit, denn die Vernichtung des Bösen bringt Freiheit, Harmonie und Glückseligkeit. Davids Gebet: „Wasche mich wohl von meiner Missetat und reinige mich von meiner Sünde. Denn ich erkenne meine Missetat,” drückt jene wahre Reue aus, welche göttliche Vergebung verdient und sie erhält. Solange die unbegründeten Ansprüche des Bösen nicht ihrem wahren Wesen nach erkannt sind, kann das Böse nicht ausgetilgt werden. Ein Mensch kann etwas, was er für richtig und vollkommen hält, nicht berichtigen. Wollte er dies auch versuchen, so käme doch nichts zustande, denn er würde im Finstern arbeiten.
Solange der Sterbliche sich weigert, seine Fehler einzugestehen, fährt er fort, ihnen zu frönen, denn er hat keinen Beweggrund oder Antrieb, von dem zu lassen, was er für gut erachtet. Er ist noch nicht auf dem Standpunkt angelangt, wo er, wie der verlorene Sohn, bereit ist zu sagen: „Ich habe gesündiget,” sondern er wird den alten Weg weiter verfolgen, bis er in irgendeiner Weise „zu der Erkenntnis der furchtbaren Unwirklichkeit, durch welche er getäuscht worden ist,” erweckt wird (Wissenschaft und Gesundheit, S. 339).
Jesus setzte seine Zuhörer in Erstaunen, als er erklärte: „Die Zöllner und Huren mögen wohl eher ins Himmelreich kommen denn ihr.” Und von dem reumütigen Zöllner im Tempel sagte er: „Dieser ging hinab gerechtfertiget in sein Haus vor jenem,” nämlich dem Pharisäer. Dieser Ausspruch weist darauf hin, daß die Selbstgerechtigkeit eines der größten Hindernisse zum Fortschritt ist. Es erfordert moralischen Mut, um seine Fehler einzugestehen, wenn auch nur sich selbst. Vor den beiden Extremen, der Selbstgerechtigkeit und der Selbstverdammung, muß man beständig auf der Hut sein. Erstere macht weiteren Fortschritt unmöglich, während letztere das Gute nicht erkennt, weil es sich an die alten Fehler festklammert. Man sollte der Veranschaulichung der Nichtsheit des Bösen kein Hindernis in den Weg legen. Das Böse hat nur so viel Macht, als ihm die sterbliche Annahme zugesteht. Wenn man wirklich geheilt zu werden wünscht, physisch und moralisch, dann kann nichts dieses gute Werk aufhalten.
Das Gleichnis vom verlorenen Sohn legt dar, daß nichts, was der Sterbliche Mensch tun kann, die unendliche Liebe Gottes zu beeinflussen vermag. Auf Seite 494 von Wissenschaft und Gesundheit finden wir die Versicherung: „Die göttliche Liebe hat immer jede menschliche Notdurft gestillt und wird sie immer stillen.” Wer ernstlich bestrebt ist, auf die göttliche Art und Weise erlöst zu werden, tut freudig alles, was von ihm verlangt wird. Er ist ob der Aufdeckung des Irrtums in seinem eignen Bewußtsein nicht beunruhigt, denn er sieht darin den Beweis, daß die Wahrheit mit ihm ist, und er bemüht sich, dem göttlichen Gesetz zu gehorchen. Jeder Sieg über das Böse gibt ihm ein größeres Maß von Weisheit und Kraft und bereitet ihn vor auf den nächsten Schritt in seiner Wanderung himmelwärts. Ein Anerkennen der eignen Fehler und das Verständnis von Gottes Allgegenwart, Macht und Liebe machen den Fortschritt nicht nur möglich sondern auch gewiß.
 
    
