Wollte man das Zeugnis der physischen Sinne annehmen, so könnte man sich selber und andre nur als sterblich betrachten. Es sei denn, ein Mensch wird von Kindheit auf gelehrt, daß diese sogenannten Sinne falsche Zeugen über Gott und Seine geistige Schöpfung sind, so wächst er heran und glaubt stets, er sei ein Sterblicher, dem das unvermeidliche Geschick bevorsteht, zu Staub zu werden. Nichts würde ihn dazu anregen, sich für etwas andres als einen armen, erbärmlichen Sünder zu halten. Unter dem Einfluß des falschen materiellen Sinnes, der nichts weiß von geistiger Wirklichkeit, würde er die natürliche Ordnung der geistigen Entwicklung umkehren und dafür halten, daß er der Sünde lebe, dem Geist, Gott, aber gestorben sei. Und vom Standpunkte der Wirklichkeit der Materie oder des Bösen aus bliebe ihm nichts andres übrig. Wie wahr sind doch die Worte Mrs. Eddys auf Seite 95 von Wissenschaft und Gesundheit: „Von betäubenden Illusionen eingelullt, schläft die Welt in der Wiege der Kindheit und verträumt die Stunden.”
Die Frage: „Wer bin ich?” wird nie dadurch beantwortet, daß man sich vornehmlich an den im zweiten Kapitel des 1. Buchs Mose enthaltenen Schöpfungsbericht hält. Die Annahme, als habe es eine Zeit gegeben, wo der Gottesmensch noch nicht ins Dasein gerufen war, und es sei später ein Erdenkloß vom Allmächtigen zur Erschaffung des Menschen verwendet worden, ist sicherlich nicht geeignet, Licht auf die geistige Schöpfung zu werfen. Und sonderbarerweise hat die schulmäßige Theologie beharrlich an dieser allegorischen Darlegung der materiellen Vorstellung festgehalten — als ob sie eine wesentliche Ergänzung des im ersten Kapitel des 1. Buchs Mose enthaltenen Berichts von der geistigen Schöpfung sei. Auf diese Anschauung vorgeblicher Christen ist der Umstand hauptsächlich zurückzuführen, daß in den christlichen Kirchen heutzutage so wenig christliches Heilen stattfindet.
Das Verständnis von der geistigen Schöpfung war es, was den Meister befähigte, die wunderbaren Heilungswerke zu tun, von denen das Neue Testament berichtet. Mrs. Eddy sagt in Wissenschaft und Gesundheit (S. 476): „Jesus sah in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen, der ihm da erschien, wo den Sterblichen der sündige, sterbliche Mensch erscheint. In diesem vollkommenen Menschen sah der Heiland Gottes eignes Gleichnis, und diese korrekte Anschauung vom Menschen heilte die Kranken.” Ein jeder wird zugeben, daß das richtige Verständnis vom Wesen des Menschen das begehrenswerteste Gut ist, denn es ist damit stets die richtige Erkenntnis Gottes verbunden. Beide gehören zusammen und können nicht getrennt werden. Auf Grund dieser Erkenntnis konnte Jesus erklären: „Ich und der Vater sind eines,” ferner: „Wer mich siehet, der siehst den Vater.” Diese Sätze können nicht dahin verstanden werden, daß der Mensch Gott ist, sondern sie bedeuten, daß Gott der Vater ist und der Mensch Sein geistiges Kind. Die altkirchliche Richtung hat diesen Punkt nicht erfaßt und ist daher nicht imstande, das christliche Heilen zu demonstrieren; ja sie verdammt sogar die Christliche Wissenschaft, weil sie dieses verlorene Element des Christentums wieder einführt.
Kein Mensch ist mit göttlicher Macht ausgerüstet, bis er im wissenschaftlichen Sinn versteht, daß Jesus nicht Gott war, sondern den Gipfel eines der Christus-Idee zustrebenden geläuterten menschlichen Begriffs darstellte. Nichts ist für das metaphysische Heilen wesentlicher als ein Verständnis der Doppelnatur Christi Jesu. Wer zwischen dem menschlichen Begriff und der göttlichen Idee nicht zu unterscheiden weiß, kann sich die göttliche Macht nicht nutzbar machen. Wird man sich hingegen klar, daß der wirkliche oder geistige Jesus der Christus oder Sohn Gottes war, daß aber der fleischliche oder körperliche Jesus als das jungfräulich geborene Kind einer menschlichen Mutter zu betrachten ist, deren Gemüt sich zur geistigen Höhe emporgehoben hatte, wo sie erkannte, daß Gott und nicht der Mensch der Vater des Menschen ist, dann kann man auch verstehen, was es heißt, ein vollkommenes Kind Gottes zu sein, demutsvoll in die Fußtapfen des Meisters zu treten, und schließlich die Werke zu tun, die er tat.
Genau wie Jesus unter geistiger Führung, die von dem Christus, der Wahrheit, nicht getrennt werden kann, die Scheinbarkeit der körperlichen Existenz überwand oder ablegte und somit die Wirklichkeit und Vollkommenheit des geistigen Seins dartat, so muß auch jeder von uns die Scheinbarkeit einer materiellen oder körperlichen Hülle abtun und dadurch beweisen, daß unser wirkliches oder geistiges Selbst eins ist mit dem Vater. „Wir sind nun Gottes Kinder,” sagt der Apostel, und diese Tatsache müssen wir hier und jetzt erkennen und anerkennen, wenn wir je erwachen und das Bewußtsein geistigen Seins erlangen wollen. Dies bedeutet keineswegs, daß die Sterblichen Gottes Kinder sind, oder daß es ihnen zukommt zu sagen oder zu denken, Gott sei ihr Vater. Pflicht der Menschheit ist aber, die Sterblichkeit zu verneinen und die Unsterblichkeit anzuerkennen. Hier nun entsteht die Frage: Kann ein Sterblicher seine Sterblichkeit verneinen und zugleich die Unsterblichkeit des wahren Menschen anerkennen?
Dies ist eine wichtige Frage. Jener verfinsterte Zustand des Bewußtseins, der da spricht: „Ich bin ein Sterblicher,” kann nicht sagen: „Ich bin ein Unsterblicher.” Nur durch den Einfluß des alles durchdringenden unendlichen Gemüts auf das menschliche Bewußtsein wird das vernunftmäßige Verneinen oder Verwerfen des Glaubens an die Sterblichkeit des Menschen sowie die demutsvolle Anerkennung seiner Unsterblichkeit möglich. Mit andern Worten, nicht der Sterbliche ist es, der da sagen kann: „Ich bin das Kind Gottes,” sondern der erweckte, lebendige Bewußtseinszustand. Die Christus-Idee ist es, die durch den Vorhang des Fleisches hindurchdringt und die Wahrheit des Seins trotz allen menschlichen Glaubens an Sterblichkeit bekräftigt. Geistige Inspiration ist es, nicht verstandesmäßiges Wissen. Wenn wir diese überaus wichtige Frage verstehen, wird uns auch der Sinn der Worte des Apostels Paulus klarer: „Niemand kann Jesum einen Herrn heißen ohne durch den heiligen Geist.” Kein menschliches Wesen darf sagen: „Ich bin Gottes vollkommenes Kind,” wenn es die Wissenschaft des Seins nicht versteht und dieselbe nicht demonstrieren kann. Ohne einen gewissen Grad von Erleuchtung „von obenherab” würde ein Mensch sich nur selbst täuschen oder in hypnotisches Suggerieren verfallen. Ganz unbewußt würde er das Böse gut und das Gute bös nennen. Darum sagt Paulus: „Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein.”
Die Christliche Wissenschaft bietet hier das wirksame Mittel. Sie beginnt damit, dem Einzelbewußtsein ein wissenschaftliches Verständnis von Gott einzuflößen, verhilft ihm zu der Erkenntnis, daß Gott unendliches, allgegenwärtiges Gemüt und der zum Bilde und Gleichnis des Gemüts geschaffene Mensch der einzig wirkliche Mensch ist. Wer diese Lehre in kindlicher Demut und Aufrichtigkeit aufnimmt, von dem Wunsche beseelt, den Willen Gottes zu erkennen und zu tun, der ist göttlich berechtigt und ermächtigt, sich selbst, wie Paulus sagt, dafür zu halten, daß er der Sünde gestorben ist und Gott lebt. (Siehe Römer 6, 11.) Er kann dann in verständiger und gehorsamer Weise sagen: „Ich bin Gottes Kind, Seine vollkommene geistige Idee.” Dieser mentale Vorgang entkleidet die Vorstellung von der Sterblichkeit des Menschen ihrer Macht und öffnet die Tür, durch die die Engel Gottes zu den Menschenkindern herabsteigen und wieder zu Gott emporsteigen.
Viele sind in dem Glauben befangen, daß sie jetzt Sterbliche seien, dermaleinst aber Unsterbliche sein würden. Diese Anschauung ist gänzlich verfehlt, und wer sich zu ihr bekennt, bleibt in der Knechtschaft des materiellen Sinnes, ohne Gott und ohne Hoffnung in der Welt. Den „alten Menschen” ausziehen und „vom Menschen ablassen, der Odem in der Nase hat,” bedeutet keine geheimnisvolle Umwandlung von der Sterblichkeit in die Unsterblichkeit. Es ist nur ein geistiges Erwachen, wodurch die Überzeugung entsteht, daß Gottes Mensch kein Sterblicher ist noch jemals war, sondern das vollkommene Bild und Gleichnis des Geistes. Es ist die im Einzelbewußtsein stattfindende Verdrängung jeder irrigen Vorstellung, Theorie und Anschauung durch geistige Ideen, die ein Ausfluß des göttlichen Gemüts sind. Wer sich ehrlich bemüht, diese Ideen aufzunehmen, indem er die Argumente des persönlichen Sinnes verwirft, darf dann auf Grund seiner Erkenntnis mit Recht behaupten und kann den praktischen Beweis dafür liefern, daß er ein Kind Gottes ist. Gehorsam gegen den Befehl des Meisters: „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist,” fordert von uns, daß wir hier und jetzt unsre Unsterblichkeit auf Grund der Erklärung des Meisters anerkennen: „Ich und der Vater sind eines.”
Solange wir dies nicht in vernunftmäßiger Weise anerkennen können, „aus reinem Herzen” und indem wir uns „untereinander brünstig lieb” haben, werden wir bewußt oder unbewußt zugeben, daß wir Adams Nachkommen sind, und werden uns als solche erweisen, statt als Gottes Kinder. Heißt es aber nicht in der Schrift, daß „nicht sind das Gottes Kinder, die nach dem Fleisch Kinder sind,” und daß „Fleisch und Blut nicht können das Reich Gottes ererben”? Nur der kann behaupten, er sei Gottes vollkommenes Kind, und nur der kann erwarten, durch diese Behauptung etwas zu seiner eignen Besserung oder zur Besserung der Menschheit zu vollbringen, der ehrlich und aufrichtig bestrebt ist, das „Fleisch samt den Lüsten und Begierden” zu kreuzigen, und der dem Befehl gehorcht, „im Geist [zu] wandeln.”
