Wir werden alle zugeben, daß, bevor wir ein gewisses Maß des Verständnisses von der Christlichen Wissenschaft erlangt hatten, uns die wahre Bedeutung von Liebe ganz und gar unbekannt war, jener Liebe, die gänzlich ohne Leidenschaft und Vorurteil ist, und die Mrs. Eddy als „unparteiisch und allumfassend in ihrer Anwendbarkeit und in ihren Gaben” bezeichnet (Wissenschaft und Gesundheit, S. 13).
Das dreizehnte Kapitel des ersten Korintherbriefes gibt eine wunderbare Darlegung der wahren Liebe. Wollten wir jedoch behaupten, diese göttliche Idee in ihrem vollen Umfang zu verstehen, so wäre das, wie wenn ein Vogel glaubte, den unendlichen Raum durchfliegen zu können. Je weiter er fliegen würde, desto mehr wäre er von der Unendlichkeit des Weltalls überzeugt. Wenn wir auch nicht alles über Gott wissen können, so können wir doch wenigstens etwas von Seiner Allheit erfassen. Die Lektions-Predigten sind eine fortwährende Offenbarung dieser Allheit, dieser Fülle der göttlichen Liebe. Eine davon, für die die Verfasserin besonders dankbar war, behandelte die von der Liebe untrennbaren Eigenschaften: Geduld, Demut, Selbstlosigkeit, Gerechtigkeit, Standhaftigkeit, und regte zu ernstem Nachdenken an über den Ausspruch: „Die Liebe ist langmütig und freundlich.”
Wir haben wohl alle die Erfahrung gemacht, daß diejenigen, die uns am meisten geholfen und den besten Einfluß auf uns ausgeübt haben, uns am meisten liebten. Das Pflichtgefühl, das der Liebe entbehrt, ist gleich einem Heim, in dem, obwohl es bequem eingerichtet ist, kein Herdfeuer flackert, und in dessen Fenster keine Lampe glüht. Damit unsre Gedanken willkommen und unsre Dienste angenehm seien, müssen sie von der Wärme der Liebe durchdrungen sein.
Diejenigen unter unsern Freunden, die uns mit der größten Geduld und Selbstlosigkeit behandelten; die uns nach bestem Ermessen und ohne Eigennutz den Weg wiesen; die zu edel dachten, um Mißerfolg zu prophezeien, wenn wir nicht den von ihnen empfohlenen Weg einschlugen; die sich unsres Erfolges stets freuten, oder, wenn wir Mißerfolg hatten, uns aufmunterten, indem sie uns halfen, den Fehler einzusehen, und nie auch nur durch einen Blick die selbstgerechte Genugtuung des sterblichen Sinnes mit den Worten zum Ausdruck brachten: „Ich hab’ dir’s ja gesagt”— diese waren in der Tat unsre besten, unsre treuesten Freunde.
„Die Liebe ist langmütig und freundlich.” Wie nötig ist es doch, daß wir gegenüber unsern Nächsten geduldig seien, denn wie sehr bedürfen wir ihrer Geduld! Wie eilig haben wir es oft, obschon uns selbst viele Fehler anhaften, ein unüberlegtes Urteil abzugeben, zu tadeln, unbarmherzige Kritik zu üben, ja vielleicht den Nächsten gänzlich zu verdammen. Je mehr wir im Unrecht sind, desto leichter geraten wir in diesen Irrtum, indem wir uns dadurch zu rechtfertigen suchen, daß wir allem möglichen die Schuld geben, nur nicht dem, was die Schuld trägt, nämlich dem selbstsüchtigen Ich. Auf Seite 49 von Wissenschaft und Gesundheit spricht Mrs. Eddy von der „göttlichen Geduld” unsres Meisters, und auf Seite 4 schreibt sie: „Am meisten bedürfen wir des Gebetes inbrünstigen Verlangens nach Wachstum in der Gnade, das in Geduld, Sanftmut, Liebe und guten Werken zum Ausdruck kommt.”
Erst wenn wir die unvergängliche Liebe wiederspiegeln, können wir den sterblichen Sinn von seiner traurigen Betrachtung des eitlen Traums des Irrtums ablenken und den geistigen und ewigen Wirklichkeiten zuführen. „Die Liebe ist langmütig und freundlich.” Sie ist von der Geduld nicht zu trennen — und zwar ist hier nicht die Geduld gemeint, die mit dem Irrtum nachsichtig ist, sondern die Geduld, welche gegenüber dem nach Licht und Wahrheit ringenden Gedanken eine freundliche, aufmunternde und nachsichtige Haltung annimmt. Laßt uns doch mit den unbeholfenen Besserungsversuchen unsres Nächsten zum mindesten ebensoviel Geduld haben, wie eine Mutter mit ihrem Kinde hat, das die ersten Versuche im Gehen macht. Wir müssen die Liebe beweisen, die tröstet und zu neuem Anlauf ermutigt, die weise genug ist, um den Bestrebungen eines andern ihre Eigenart zuzugestehen. Diese Liebe entmutigt nicht durch Tadel und schadet nicht durch falsches Mitgefühl, sondern hat festes Vertrauen auf des Menschen Fähigkeit, sein Problem auszuarbeiten. Wir streben ja gemeinschaftlich dem einen großen Ziel zu. Erst wenn wir das geistige Licht in dem Maße wiederspiegeln, wie wir es empfangen haben, können wir ein höheres Verständnis von der Langmut und Geduld der göttlichen Liebe erlangen.
Gott hat uns keinen andern Weg gewiesen, darauf wir gen Himmel gehen können, denn Sein liebes Wort, das heilige Evangelium. Wer dasselbe gern hört, mit Fleiß merkt und Licht und Liebe daran hat, dem ist geholfen.
 
    
