Es hat Zeiten gegeben, in denen recht sonderbare Dinge gelehrt wurden, und je ernster die Menschen an diese Dinge glaubten, desto unglücklicher waren sie. So lehrte man z. B., daß, wenn ein Mensch seiner Pflicht, Gutes zu tun, nachzukommen trachte, er dadurch an dem ihm selber zukommenden Guten Abbruch erleiden müsse. Für diesen Verlust des Guten wurde ihm zwar Belohnung in Aussicht gestellt, aber erst in ferner Zukunft und in einem Zustand der Glückseligkeit, der nur durch den größtmöglichen Verlust, den Verlust des Lebens, erreicht werden konnte. Die Art dieser Belohnung wurde unbestimmt angegeben, aber den Zutritt zu ihr fürchtete man und machte ihn nur ungern zum Gesprächsgegenstand.
Dennoch gab es viele, die ihrer Pflicht ehrlich nachzukommen suchten, und was sie erreicht hatten, wurde dann nach der Größe des gleichzeitigen Verlustes an ihrem eignen Guten bemessen. Man sah das Geben nicht als wahre Mildtätigkeit an, wenn kein Verlust damit verknüpft war. Arbeit für andre mußte Müdigkeit erzeugen, um als echt zu gelten. Der erschöpfte Missionar, der nur die Hälfte seiner Tage durchlebte, wurde als ein Muster wahrer Opferwilligkeit angesehen. Im Falle der Krankenwärterin, die einem Patienten während einer langwierigen Krankheit beigestanden hatte, glaubte man, daß sie nun selber der Pflege bedürftig sei. Die Gabe des Reichen wurde niedrig veranschlagt, weil man sie sich nicht als mit einem Verlust verbunden denken konnte. Der Mensch, der sich eines ungetrübten Glücks erfreute, wurde nicht als ein guter Mensch angesehen, denn man glaubte, der Geber von etwas Gutem müsse Mangel empfinden und eine Verminderung seines Glücks erleiden. War dies nicht der Fall, wie konnte dann das, was er gab, gut sein!
Mit was sollen wir diese Anschauung vergleichen? Man denke sich eine Ortschaft, wo kein Fluß in der Nähe ist und kein Wasser aus dem Boden quillt, wo eine glühende Hitze herrscht und die Leute nur so viel Wasser haben, wie sie bei gelegentlichen Regengüssen in Zisternen auffangen können. In solchem Falle würde jeder Tropfen, den man aus einer Zisterne andern mitteilt, den sichtbaren Vorrat vermindern. Wer zu freigebig wäre, müßte Durst leiden. Geben würde stets Verlust und in manchen Fällen Mangel bedeuten. Unter solchen Umständen wäre es richtig, erwähnter Anschauung gemäß zu geben. Das Mangelhafte an dieser Anschauung ist jedoch Beschränkung. Würde ein Mensch in genannter Ortschaft einen artesischen Brunnen bohren und aus diesem ein Bächlein klaren Wassers die Straße entlang fließen lassen, damit alle trinken können, so wäre er kein Wohltäter, denn sein Geben verursacht ihm ja keinen Verlust, keinen Mangel. Der Bürger, der zögernd nur einen Bechervoll auf einmal gibt und dabei ängstlich seinen abnehmenden Vorrat betrachtet, würde sich in weit höherem Maße um seine Mitbürger verdient machen, obgleich er nur wenigen geholfen hat. Der Mann, der dadurch, daß er für sich selber eine Versorgungsquelle entdeckt hat, vielen andern von seinem Überfluß mitteilen konnte, wäre ohne Verdienst. Es ist klar, daß eine solche Anschauung falsch ist, und somit muß die entgegengesetzte Methode, durch das Erlangen des Guten Gutes zu tun, richtig sein.
In diesem Zusammenhang ist ein Gesetz in Erwägung zu ziehen, dem Christus Jesus Ausdruck gab. „Wer da hat, dem wird gegeben,” sagte er; „wer aber nicht hat, von dem wird genommen, auch das er meinet zu haben.” Wenn bei einem Menschen das Mitteilen des Guten zur Folge hat, daß sein Vorrat an Gutem abnimmt, so wird er mit der Zeit sogar den Schein des Guten verlieren; und wie kann man einen Menschen gut nennen, wenn er nichts Gutes hat? Ist es aber recht, Gutes zu haben und es zu vermehren, jenem Gesetz gemäß, daß dem, der da hat, gegeben wird, bis er des Guten die Fülle hat, dann kann Geben nicht arm machen, noch kann Vorenthalten bereichern. Man hat selber genug und kann andern mitteilen, wie im Falle jenes unversiegbaren Brunnens.
Die Christliche Wissenschaft bringt der Welt die Erkenntnis der Wahrheit des Seins und schützt die Opfer falscher Theorien und der Selbstgerechtigkeit vor ihrer eignen Torheit. Sie offenbart Gott als den Quell des Guten und den Menschen als den Empfänger, der keine eigne Gerechtigkeit hat, sondern die, so aus der Erkenntnis hervorgeht, daß der Mensch der Sohn Gottes ist und als solcher Gott widerspiegelt. Er empfängt Gutes und bringt Gutes zum Ausdruck. Er bildet oder erschafft es nicht, somit kann es ihm nicht verloren gehen oder entwendet werden. Wie könnte er denn andern helfen, wenn Geben für ihn Verlust bedeutete und ihn hilflos machen würde? Wer hilfreich ist, muß auch gutreich sein, um mit Verlaub ein Wort zu bilden. Und wahre Hilfe besteht darin, daß man das leere Herz zur Erkenntnis seines eignen Guten führt, wodurch man die Einöde erblühen läßt und die Wüste mit Frohlocken erfüllt — wie wenn sich einem durstigen Lande Quellen erschließen.
Diese Dinge lassen sich am besten durch einen Fall aus dem Leben veranschaulichen. Ich kannte einst einen Mann (ja mehr als einen), der nach dem Maße der Erkenntnis seiner Zeit für Gott eiferte, unter seinen Mitmenschen unablässig arbeitete, in den ärmeren Stadtteilen das Evangelium predigte und in Winkeln, wo die Leiden der Trunksucht in dem mitleidsvollen Besucher ein Gefühl des Entsetzens erregen, die Verlorenen zu retten suchte. Das durch die Schuldigen verursachte Leiden der Unschuldigen, die Last des Kummers, für welche es keine Erleichterung zu geben schien, der Umstand, daß sich keine offene Ohren und verständige Herzen finden wollten — all dies verband sich zu einer Bürde, unter welcher unser Menschenfreund seine Spannkraft, seine Hoffnung und seine Gesundheit verlor; mit andern Worten, er brach total zusammen. Nach Jahren sah ich ihn wieder (sowie manch andern), und durfte erfahren, daß das Verständnis von der Christlichen Wissenschaft alles neu gemacht hatte. Eine höhere Auffassung von den Gesetzen des Reichs Gottes hatte Raum gefunden, und mit der wiederhergestellten Gesundheit, der neubelebten Hoffnung und Freudigkeit kam auch die klare Erkenntnis, wie den Menschen geholfen werden kann. Die folgenden Worte des Lehrbuchs waren bewiesen worden: „Das mit diesem geistigen Verständnis ausgestattete menschliche Gemüt wird elastischer, ist größerer Ausdauer fähig, kommt in etwas von sich selbst los und bedarf weniger der Ruhe. Eine Kenntnis von der Wissenschaft des Seins entwickelt die latenten Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 128).
Wir haben also zuerst ein Bild gesehen von solchen, die, vom menschlichen Standpunkte aus betrachtet, Leistungsfähigkeit, Gesundheit, Mut und Glauben eingebüßt hatten, und dann das verwandelte Bild, nämlich erfolgreiche Arbeiter, Tröster der Traurigen, Heiler der Kranken, selber Empfänger von Gesundheit, ja einer unaussprechlichen Erlösung. Dies ist ein Wunder vor den Augen der Welt, das sich aber fortwährend wiederholt. Man achte hier darauf, daß in allen solchen Fällen die Menschenfreunde ihre Fähigkeit, sich dem Werk der Wohltätigkeit zu widmen, dadurch wiedererlangten, daß sie zuerst für sich selber das Gute fanden. So bewahrheiten sich die Worte aus den Sprüchen Salomos: „Wer klug wird, liebet sein Leben; und der Verständige findet Gutes.” Folgt daraus nicht, daß diejenigen, die Gottes Liebeslicht widerspiegeln, erst Empfänger dieses Lichtes sein und sich darin freuen müssen? Jeremia erklärte: „Verflucht ist der Mann, der auf Menschen vertrauet und Fleisch für seinen Arm hält, und dessen Herz von dem Herrn weichet! Er wird sein wie der Entblößte in der Einöde; das künftige Gute wird er nicht sehen” (Zürcher Bibel).
Weit besser als der Entblößte in der Einöde ist derjenige daran, der sein Gutes nur von Gott bekommt,—„dessen Hoffnung der Herr ist. Denn er wird sein wie ein Baum, der an dem Wasser gepflanzet ist, der seine Wurzeln zu den Bächen ausstrecket, der die Hitze, wann sie kommt, nicht empfindet, sondern dessen Blätter grün sind, und sorget nicht, wenn ein dürres Jahr kommt, auch nicht aufhöret, Frucht zu bringen” (Zürcher Bibel). Der Baum hat zuerst Früchte, ehe er sie gibt, und der Mensch, der den Vater verherrlichen will, muß ein Empfänger sein, ehe er ein Geber sein kann. Nur dadurch wird er ein Offenbarer der Quelle des Guten — des Vaters des Lichts, „bei welchem ist keine Veränderung noch Wechsel des Lichts und der Finsternis.” So werden also die Worte Mrs. Eddys auf Seite 7 ihres Werkes Unity of Good werktätig bewiesen: „Die Anerkennung der Vollkommenheit des unendlichen Unsichtbaren verleiht eine Macht, wie nichts andres es vermag.”
