Außer dem Leibe zu wallen” bedeutet für den Schüler der Christlichen Wissenschaft keine Erfahrung nach dem Tode. Er betrachtet es vielmehr als einen Sieg über die materiellen Sinne, der hier und jetzt möglich ist. Er kämpft „den guten Kampf des Glaubens” und strebt nach dem ewigen Leben, das nie in der Materie oder durch die Materie zum Ausdruck kommen kann.
Es gibt nur eine Art und Weise, „außer dem Leibe zu wallen,” ob hier oder im Jenseits, und die besteht darin, daß man geistig denken lernt. Ein materieller Begriff von sich selbst ist ein falscher Begriff, und seine Überwindung bedeutet die Berichtigung alles dessen, was die Annahme ausmacht, daß Leben in der Materie sei. Im gleichen Sinne, wie Jesus zu seinen Nachfolgern sagte, wer sein Leben verliere, der werde es finden, können wir auch vom Körper sagen, daß, wer seinen falschen Begriff vom Körper verliert, den wahren geistigen Begriff von Gott und vom Menschen finden wird. Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß allein ein falscher, materieller Begriff vom Menschen, vom Himmel und von der Erde verloren gehen kann, und ein Erfassen dieser Tatsache trägt viel dazu bei, das Furchtgefühl derjenigen zu vernichten, die glauben, ein Teil des wahren Seins könne verloren gehen. Etwas kann nie verloren gehen; aber nichts, das sich als etwas aufspielt, kann und wird verschwinden. In der Heiligen Schrift lesen wir: „Ihrer Sünden und ihrer Ungerechtigkeit will ich nicht mehr gedenken.” Das, woran Gott nicht mehr denkt, ist sicherlich auf ewig verloren.
Die Annahme, daß der Mensch in einem materiellen Körper lebe und daß dieser Körper einen Teil des Menschen ausmache, ist die Grundursache aller menschlichen Disharmonie. Wenn wir nur einsehen wollten, daß dieser Glaube an intelligente Materie der „alte Mensch” ist, den wir „ausziehen” müssen! Dann würden wir diejenigen, die den menschlichen Gesichtskreis verlassen haben, nicht mehr im leeren Grab der Materialität suchen. Wir müssen hier und jetzt das geistige, das wahre Wesen unsrer Lieben erkennen lernen, wenn wir uns die Angst und die Sorge und das Gefühl des Verlassenseins ersparen möchten, wie eine Vorstellung der Trennung sie stets mit sich bringt. Nur dadurch wird es uns offenbar, daß, wie unsre Führerin auf Seite 151 von Miscellaneous Writings schreibt, Gott „auf Erden wie im Himmel ... des Menschen einzig wahrer Verwandter” ist. Durch den geistigen Sinn allein lernen wir den Eltern und Geschwistern jene Liebe entgegenbringen, die keine Trennung kennt. Alles, was schlecht und vergänglich ist, ist „daheim” im Körper; alles, was gut, rein und wahr ist, alles was Gott und Seinem Menschen angehört, ist „außer dem Leibe.” Nur durch die Erkenntnis des ewigen Lebens lernen wir, täglich der Sünde zu sterben und als unsterbliche Kinder Gottes des Menschen unkörperliches Dasein zum Ausdruck zu bringen.
Sehr bedeutungsvoll sind die Worte unsrer Führerin auf Seite 167 von Wissenschaft und Gesundheit: „Wir erfassen Leben in der göttlichen Wissenschaft nur insoweit, wie wir uns in unserm Leben über den körperlichen Sinn stellen und ihn berichtigen.” Noch nie ist uns etwas Gutes durch den körperlichen Sinn zuteil geworden. Das Verlangen, Recht zu tun, uneigennützig, liebevoll und freundlich zu sein kommt stets „von obenher.” Der körperliche Sinn ist immer „von untenher” und kann nur von weltlichen Dingen zeugen. Er behauptet, der Mensch sei sterblich und materiell, Sünde, Krankheit und Tod seien wirklich und das Böse besitze Macht. Kurz, alles was sterblich und unwahr ist, stammt von ihm. Und wie können wir uns in unserm Leben über diesen körperlichen Sinn stellen und ihn berichtigen? Dadurch, daß wir unsre Gedanken darüber erheben; denn wir befinden uns, relativ gesprochen, da, wo unsre Gedanken sind. Solange wir an dem Glauben festhalten, daß der Materie Leben innewohne, sind wir nicht „daheim ... bei dem Herrn.”
Das Bestreben, sich vom körperlichen Sinn ab- und höheren Dingen zuzuwenden, führt zu einer Umwandlung und Erneuerung, die unausbleiblich moralische und physische Heilung zur Folge hat. Ganz abgesehen von der Christlichen Wissenschaft ist allgemein bekannt, daß sich körperliche Disharmonie dann am wenigsten bemerkbar macht, wenn man sich am wenigsten des Körpers bewußt ist. Es gibt gewiß wenig Leute, die nicht aus eigner Erfahrung wissen, wie peinlich es werden kann, wenn man fortwährend an sich selber denkt. Furcht, Leidenschaft, Zorn, Begierde und ähnliche Irrtümer wohnen dem Körper inne und sind stets bereit, bei der geringsten äußeren Veranlassung loszubrechen. Wenn nun diese Irrtümer die Ketten sind, die das menschliche Bewußtsein in der Gefängniszelle der Materie gefangen halten, liegt es dann nicht auf der Hand, daß „außer dem Leibe zu wallen” die Zerstörung dieser Irrtümer bedeutet?
Gerade hier beginnt der Kampf mit dem „alten Menschen,” denn der Glaube, daß die Materie Intelligenz besitze, daß ihr etwas innewohne, was gut ist und was man pflegen, verehren und fortpflanzen muß, weicht nicht sofort den Bekräftigungen geistiger Wahrheit, denn die Zerstörung dieses Glaubens bedeutet unvermeidlich die Vernichtung der Sünde, ja aller Formen der Sinnlichkeit. Alles um Christi willen verlassen heißt in der Tat das „Fleisch samt den Lüsten und Begierden” kreuzigen. Um sich über die Forderungen der materiellen Sinne zu erheben, ist eine erhabene, geläuterte, systematische Denkweise nötig. Zu einem jeden von uns sagt die Wahrheit: Du kannst jeder Versuchung Herr werden, wenn du dein Denken bewachst. Wir geraten nur dann in Schwierigkeiten, wenn wir unser Denken unbewacht lassen.
Auf Seite 393 von Wissenschaft und Gesundheit schreibt Mrs. Eddy: „Nimm Besitz von deinem Körper, und regiere sein Empfinden und Tun.” Und gleich darauf folgen als Ergänzung die Worte: „Erhebe dich in der Stärke des Geistes, um allem zu widerstehen, was dem Guten unähnlich ist.” Wer sich mit Hilfe der menschlichen Willenskraft zu „erheben” sucht, bleibt erfolglos, denn es muß „in der Stärke des Geistes” geschehen. Nur so können wir dem widerstehen, „was dem Guten unähnlich ist,” dem, was der körperliche Sinn uns als wirklich vorspiegeln möchte. Aber wie ermöglicht uns das, von unserm Körper Besitz zu nehmen? Sobald der menschliche Gedanke sich vom Körper abwendet, lösen sich auch die mentalen Bande, die ihn zusammengeschnürt hielten. Der Körper kehrt in seinen natürlichen Zustand zurück und befindet sich nunmehr unter der Herrschaft einer unsichtbaren, höheren Intelligenz oder Macht, des einen Gemüts. Wir nehmen alsdann Besitz vom Körper auf die gleiche Weise, wie wir von einem Grundstück Besitz nehmen, das wir uns rechtsgültig erworben haben. Der einzige Unterschied besteht darin, daß im Falle eines Grundstücks der Besitztitel unsern Namen trägt, während derjenige des wahren, geistigen Menschen, der göttlichen Idee, auf den Namen Gottes, des erhabenen Schöpfers und Besitzers aller Dinge lautet. Der Umstand, daß wir das Grundstück rechtsgültig besitzen, verlangt nicht, daß wir fortwährend daran denken sollen; desgleichen brauchen wir uns auch nicht fortwährend mit unserm Körper zu beschäftigen, wenn wir ihn unter Gottes Obhut gestellt haben.
Es ist in der Tat ein bedauerliches Armutszeugnis für das Christentum, daß alle menschlichen Systeme, die den Schutz und die Erhaltung des menschlichen Lebens zum Zweck haben, mit des Meisters Ermahnung, nicht für materielle Dinge zu sorgen, in direktem Widerspruch stehen. Wer also bestrebt ist, „außer dem Leibe zu wallen,” muß diesen Systemen zuwider handeln. Sie lassen Gottes Bereitwilligkeit und Fähigkeit, allen Seinen Kindern geistigen oder mentalen Schutz zu gewähren, gänzlich außer acht. Der Körper wird durch reine und heilige Gedanken ernährt und erhalten. Selbstische menschliche oder körperliche Gedanken müssen durch selbstlose, unkörperliche Gedanken ersetzt werden. Das allwissende Gemüt kennt alle Bedürfnisse einer jeden seiner Ideen. Wenn sich jemand dieser Wahrheit nicht bewußt werden kann, so liegt das Hindernis in irgendeiner menschlichen Annahme oder Vorstellung, die er hegt und der er mehr Macht einräumt als dieser Wahrheit.
Wenn erst das göttliche Prinzip der Christlichen Wissenschaft besser verstanden wird, werden wir den Körper ebensowenig mit sündigen und krankhaften Gedanken speisen wie wir ihm jetzt eine Dosis reinen Gifts geben. Erst wenn wir unser Denken über die Annahme eines materiellen Lebens erheben, lernen wir, barmherzig gegen den Körper zu sein. Die sanfte Stimme der Wahrheit ist nur dann hörbar, wenn der Glaube, daß die Materie Lust und Schmerz empfinden könne, durch himmelwärts strebende Gedanken zum Stillschweigen gebracht worden ist. „Außer dem Leibe” wallen, d. h. frei sein von der Vorstellung, daß das körperliche Dasein unser wahres Leben ausmacht, bedeutet, in solchem Grade unter der Oberherrschaft des Geistes stehen, daß man stets das Rechte tut, zur rechten Zeit und auf die rechte Weise.
Nur die Ausübung der dem Menschen von Gott verliehenen Herrschaft über die materiellen Sinne kann die Menschheit umwandeln. Die allgemein üblichen Redensarten: „Ich bin müde,” „Ich habe Schmerzen,” „Ich bin zornig” u. ä. bedeuten nichts andres als: „Ich bin ein Sterblicher und es soll es jedermann wissen”— denn Elend sehnt sich nach falschem Mitleid. Solche Zugeständnisse leugnen direkt das Recht auf den friedlichen Besitz des Körpers. Bewußte Kraft ist stets „außer dem Leibe.” Alles was dem Körper entspringt — d. h. dem körperlichen Sinn —, ist nichts andres als menschliche Willenskraft. Und sind nicht die Worte des Meisters: „Ich kann nichts von mir selber tun,” ein scharfer Verweis für alle menschliche Willenskraft?
Wenn Jesus seine großen Werke nur dadurch tun konnte, daß er die göttliche Macht wiederspiegelte, was muß man dann von einem schwachen Sterblichen halten, der behauptet, seine Willenskraft sei eine seiner wertvollsten Gaben? Es ist geradezu erstaunlich, welch großes Gewicht viele erklärte Christen auf die Ausübung menschlicher Willenskraft legen. Haben sie des Meisters Beispiel aus den Augen verloren? Haben sie die Geschichte von David und Goliath vergessen? Erinnern sie sich nicht der Worte des Herrn durch den Mund Serubabels: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth”? Wer sein Denken über den körperlichen Sinn erhebt, kann unmöglich dem Bösen frönen. „Außer dem Leibe” wallen heißt, sich der Allmacht des Guten bewußt sein. Die Erkenntnis, die den Worten des Meisters zugrunde lag: „Ich bin von obenher,” schloß bei ihm alle körperliche Versuchung aus. Hätte er sich als „von untenher” betrachtet, so hätte er sich auch den Ansprüchen der körperlichen Sinne unterworfen.
Die Christlichen Wissenschafter müssen also ebenfalls des Menschen Unsterblichkeit anerkennen und verstehen, wenn sie je den mentalen Goliath besiegen und sich über die unheilbringende Annahme erheben wollen, daß sie etwas von sich selber tun könnten. Solange sie zugeben, daß sie sterbliche Wesen seien, machen sie allen Fortschritt unmöglich und bleiben der Sklave des Glaubens an die Wirklichkeit der Materie. Wer sich auf die Seite der Materie stellt, wird dadurch zum Bundesgenossen der Philister. Hätte sich David auf die Materie oder auf menschliche Kraft verlassen, um den Riesen von Gath zu besiegen, so hätte er eine schmähliche Niederlage erlitten. Der Anfänger, der sich einbildet, in seinem Verständnis und seiner Demonstration der Christlichen Wissenschaft allein auf Grund des Buchstabens und ohne den Geist dieser Lehre Fortschritte machen zu können, und der auch nur einen Augenblick der Einflüsterung Glauben schenkt, daß Behandlungen, die auf bloßem Argumentieren beruhen, den Bedürfnissen der Menschheit entsprächen — ein solcher wallt noch nicht „außer dem Leibe,” ist noch nicht „daheim ... bei dem Herrn.” Er macht falschen Gebrauch von dem Buchstaben der Wissenschaft, anstatt ihn dazu anzuwenden, unter der Leitung der Wahrheit sein eignes Denken über die Vorspiegelungen der körperlichen Sinne zu erheben.
Das große Vorrecht, „außer dem Leibe zu wallen,” ist eine gegenwärtige Möglichkeit; aber der körperliche Sinn, der „Feindschaft [ist] wider Gott,” kann nicht in dieses Allerheiligste eingehen. Dieser körperliche Sinn muß verneint und überwunden werden, damit er dem höheren, dem unkörperlichen oder geistigen Sinn Raum gebe, der Gott gehorcht und Seine Gebote hält.