Als Pilatus den demütigen Nazarener fragte: „Was ist Wahrheit?” erhielt er keine Antwort. Seit jener Zeit hat sich gar mancher diese Frage vorgelegt. Die beste Antwort ist die Herstellung von Gesundheit und Harmonie durch die Erkenntnis der Wahrheit, und dieses Ergebnis nehmen die Christlichen Wissenschafter als überzeugenden Beweis an, zumal sie sich denselben täglich liefern können. Zu den großen Vorzügen der Wissenschaft des Christentums gehört, daß sie die Menschheit in liebevoller Weise auffordert, sich die Nichtigkeit eines jeden Schrittes zu beweisen. Es ist als ob Mrs. Eddy den Suchern nach einer praktisch anwendbaren Religion gesagt hätte: „Nimm diese Lehre an, nicht weil ich weiß, daß sie wahr ist und weil ich sie habe demonstrieren können, sondern weil du ihre Wahrheit selbst beweisen kannst.” Sie lenkt unser Interesse liebevoll von ihren eignen Errungenschaften ab und richtet es auf die Notwendigkeit des Sichbewußtwerdens geistiger Dinge.
War dies nicht, was Jesus tat, als er seine Jünger aussandte? Er trug ihnen auf, die Kranken zu heilen, die Toten zu erwecken, die Aussätzigen zu reinigen und die Teufel auszutreiben. Sie sollten sich nicht auf die Persönlichkeit des Meisters stützen, sondern selber die Macht der Wahrheit beweisen, die er sie gelehrt hatte. So zogen sie denn aus und „predigten an allen Orten; und der Herr wirkte mit ihnen und bekräftigte das Wort durch mitfolgende Zeichen.”
Bewies nicht Christus Jesus, daß die Frage des Pilatus nur durch praktische Werke beantwortet werden kann, als er auf die Frage des Johannes: „Bist Du, der da kommen soll,” statt an seine Worte zu erinnern, auf seine Werke wies? Johannes hatte Jesus getauft und hatte die Stimme gehört, die vom Himmel herab sprach: „Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe.” Dennoch zweifelte er später im Gefängnis und sandte zwei seiner Jünger zu Jesus mit obiger Frage. Bei Jesus angelangt, wurden sie sogleich Zeugen der heilenden Macht der Wahrheit, und erst nachdem der Meister die Wahrheit vor ihren Augen werktätig bewiesen hatte, sprach er, wie wir im Evangelium des Lukas lesen: „Gehet hin und verkündiget Johannes, was ihr gesehen und gehöret habt: die Blinden sehen, die Lahmen gehen, die Aussätzigen werden rein, die Tauben hören, die Toten stehen auf, den Armen wird das Evangelium gepredigt.”
Die Werke, die der Meister während seiner ganzen irdischen Laufbahn vollbrachte, hätten die Antwort auf die Frage des Pilatus bilden sollen. Hatte nicht der große Metaphysiker dem ganzen Judäa und den umliegenden Ländern bewiesen, daß die Wahrheit, das Wort Gottes, den Menschen in geistiger, sittlicher und physischer Hinsicht volle Gesundheit bringt? Seine Verheißung: „Und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen,” wird vielleicht öfter angeführt als irgendeine andre. Wir haben sie mit Freuden vernommen, haben sie geglaubt und für beweisbar erklärt. Und doch befinden wir uns oft in Knechtschaft, anstatt uns der Freiheit zu erfreuen, indem wir nicht imstande zu sein scheinen, ein schwieriges Problem zu lösen oder eine Krankheitsvorstellung loszuwerden. Wir fangen dann wohl an zu zweifeln, oder wir hegen bewußt oder unbewußt ein Gefühl des Unwillens und fragen: „Wo liegt der Fehler — am Praktiker oder an der Christlichen Wissenschaft?” Liegt es nicht eher daran, daß wir noch nicht von unsrer eignen Vorstellung geheilt worden sind, uns fehle etwas?
Wir müssen uns sehr vorsehen, nicht dem Irrtum der mentalen Pfuscherei zum Opfer zu fallen — nicht „aus der Krankheit eine Wirklichkeit zu machen — sie für etwas zu halten, das man sehen und fühlen kann — und dann zu versuchen sie durch Gemüt zu heilen” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 395). Ist es nicht vielleicht gerade dies, wovor der Meister die Jünger warnte, als sie sich freuten, daß selbst die Teufel ihnen untertan waren? Sollten wir uns nicht vielmehr darüber freuen, Gott als Prinzip und den Menschen als Seine Idee erkannt zu haben? Was sind Teufel andres als sogenannte Übel? Wir müssen uns nicht sowohl über die Überwindung von Krankheit und Sünde freuen als vielmehr über die Erkenntnis, daß es im Reich Gottes, das hier und jetzt besteht, keine Übel gibt, die überwunden werden müssen, und daß das Verständnis der Wahrheit Sünde sowohl wie Leiden aufhebt.
Ich habe die Richtigkeit obiger Darlegung selbst praktisch bewiesen, als ich einmal von einem akuten Leiden befallen wurde. Die Erkenntnis, daß diese Krankheitsvorstellung ein Irrtum war, daß Disharmonie nicht von Gott kommt und nicht seinem Willen gemäß ist, verbunden mit dem Gefühl ehrlicher Dankbarkeit für diese Erkenntnis, führte eine augenblickliche Heilung herbei. Der Schmerz schien so furchtbar, daß es zu keiner eigentlichen Behandlung kam, sondern nur aus dem Herzen der Ruf sich emporschwang: „Gott sei Dank, es ist nicht wahr! Er ist nicht der Urheber dieses Übels. Gott sei Dank für diese Erkenntnis!” Und das Werk war vollbracht. Als ich aus einem kurzen, ruhigen Schlaf erwachte, fühlte ich mich völlig frei.
Der Rat unsrer Führerin, vor mentaler Pfuscherei auf der Hut zu sein, ist klar, denn dieser Gedankenzustand ist die listigste aller sterblichen Vorstellungen. Sicherlich glaubt kein Christlicher Wissenschafter, der im Bilde Gottes geschaffene Mensch sei unharmonisch oder krank, denn dieser kann nicht von etwas geheilt werden, dessen sich Gott nicht bewußt ist. Die Idee der Vollkommenheit bedarf keiner Heilung. Das Verständnis dieser Wahrheit seitens des Vertreters wie des Patienten hebt beide über die Vorstellung der Krankheit empor. Die Vorstellung von Sünde und Krankheit ist unwirklich; sie hat keine Stütze an Gott oder an Seinem Gesetz. Sie ist nicht wahr, denn sie ist nicht von der Wahrheit. Und die Erkenntnis der Wahrheit erlöst uns von allem scheinbaren Übel.
Jesu Verheißung: „Und werdet die Wahrheit erkennen,” gilt für alle Zeiten, und wir wissen, daß seine Verheißungen in Erfüllung gehen werden. Haben wir hierfür nicht mancherlei Beweise gehabt? Beim Gedanken an dieselben nehmen wir die Bibel zur Hand und lesen nochmals obige Verheißung, diesmal aber auch die vorhergehenden und nachstehenden Verse. Als Ganzes genommen, erscheint das Wort in einem neuen Lichte, in geistiger Bedeutung und Anwendbarkeit. (Siehe erklärende Bemerkung zu den Bibellektionen.) Wir finden, daß diese Verheißung von einer Bedingung abhängt, die wir vielleicht in unserm Eifer, Freiheit von physischen Übeln zu erlangen, übersehen haben. So wollen wir denn mit mehr Aufmerksamkeit und Demut den vorhergehenden Vers lesen: „Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen.” Die gestellte Bedingung ist also: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede.” Durch Festhalten, durch das Bleiben an seiner Rede, nachdem wir das Verständnis von dieser Rede durch die Christliche Wissenschaft empfangen haben, vermögen wir unser Freisein zu demonstrieren.
Was bedeutet also das Wort bleiben? Ohne Unterbrechung fortfahren, mit Geduld und Ausdauer weiter arbeiten. Wenn wir „unter dem Schatten des Allmächtigen” bleiben, sind wir frei von allem, was dem Wesen Gottes nicht entspricht, denn wenn wir Gott alle Ehre geben, erkennen wir nur die Anforderungen des Prinzips an und sind somit fähig, zu allen Zeiten und unter allen Umständen die Oberherrschaft der Wahrheit zu beweisen.