Im fünften Kapitel des Briefes des Jakobus finden sich Anweisungen, wie sich ein Christ in Zeiten der Not Verhalten soll. Der vierzehnte Vers handelt von der Krankenheilung und lautet: „Ist jemand krank, der rufe zu sich die Ältesten von der Gemeine und lasse sie über sich beten und salben mit Öl in dem Namen des Herrn.” Mit dieser Stelle hat man versucht zu beweisen, daß die Bibel die Anwendung materieller Heilmittel befürworte, und man hört zuweilen die Behauptung, was in diesem Vers gesagt ist, stehe im Widerspruch mit der Christlichen Wissenschaft, nach welcher der Materie keine Heilkraft innewohnt. Nun gründet sich aber dieser Vorwurf auf eine wörtliche, materielle Auslegung des Ausdrucks „salben mit Öl,” wodurch nicht nur der Sinn der zitierten Bibelstelle sondern auch die Lehre der Schrift im allgemeinen beeinträchtigt wird. Eine solche wörtliche Auffassung steht nicht im Einklang mit der Lehre und den Werken Jesu. Erst wenn der Ausspruch bildlich ausgelegt wird, stimmt er mit der Christus-Art des Heilens überein, und die bildliche Auslegung ist die von der Christlichen Wissenschaft anerkannte. Die hier versinnbildlichte geistige Wahrheit ist praktisch und inspirierend und belohnt reichlich das Streben, sich über die äußere, materielle Form zu erheben.
Die Behauptung, der angeführte Vers rechtfertige die medizinische Heilmethode, ist unzutreffend, denn das Salben mit Öl als Allheilmittel steht im Widerspruch mit der medizinischen Praxis jener Zeit sowohl wie aller andern Zeiten. Heutzutage geschieht die Salbung mit Öl im Namen der sogenannten medizinischen Wissenschaft und nicht „in dem Namen des Herrn,” wie die Schrift verlangt, auch schließt eine solche Salbung nicht das Gebet in sich, wiewohl das laut Anweisung des Apostels die Grundbedingung zur Heilung ist.
Das ganze vierzehnte Kapitel des genannten Briefes ist einerseits eine ausdrückliche Verwerfung des Vertrauens auf materielle Mittel, und andrerseits eine starke Befürwortung des Sichverlassens auf göttliche Hilfe. Ein einziger Satz kann nicht mit dem Rest des Kapitels in Widerspruch gestellt werden, indem man ihn so auslegt, als ermutige er das Vertrauen auf die Materie anstatt auf den Geist. Geschah das Salben der Kranken nicht als Ausübung eines religiösen Brauchs, so beruhte es auf Unwissenheit und Aberglauben, wie Lightfoot durch ein Zitat aus dem Talmud und durch Umschreibung des in Frage kommenden Verses wie folgt dartut: „Bei den ungläubigen Juden ist es gebräuchlich, die Kranken zu salben und dabei allerlei Zauberworte zu murmeln; wie unendlich besser ist es jedoch, die frommen Gebete der Ältesten der Kirche mit dem Salben der Kranken zu verbinden.” Ist es nach zweitausend Jahren christlicher Tätigkeit nicht immer noch besser, gänzlich auf Gott zu vertrauen, der „heilet alle deine Gebrechen,” anstatt sich auf materielle Mittel zu verlassen? Der fünfzehnte Vers des betreffenden Kapitels läßt uns darüber in keinem Zweifel. Es heißt da: „Das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten.” Dies steht in direktem Widerspruch mit der Annahme, als besitze Olivenöl oder irgendein andres materielles Mittel heilende Kraft. Der sechzehnte Vers enthält die Ermahnung: „Betet für einander, daß ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.” Das Sichverlassen auf ein unintelligentes Arzneimittel entspricht somit nicht dieser Lehre.
Ein Ähnlichkeitsverhältnis aufzustellen zwischen der alten Sitte, mit Öl zu salben, wie sie so oft in der Bibel erwähnt ist, und der heutigen Anwendung des Öls in Form eines Arzneimittels, ist unzulässig, denn es handelt sich um zwei ihrer Bedeutung nach entgegengesetzte Handlungen. In der alten Zeremonie wurde das Öl als das Symbol der wohltätigen, stets gegenwärtigen Macht Gottes betrachtet, während der moderne medizinische Gebrauch alle Macht dem Öl zuschreibt und Gott außer acht läßt. Es ist ein ebenso großer Fehler, zu glauben, das Salben mit Öl an und für sich habe die Macht, einen Menschen gesund zu machen, als anzunehmen, eine rein äußerliche Handlung, wie die Salbung Aarons und Davids oder die Bedeckung Elisas mit einem Mantel, sei imstande gewesen, einen Leibeignen zum Hohenpriester, einen Hirtenknaben zum berühmten König oder einen Bauern zum Propheten zu machen.
„Du salbest mein Haupt mit Öl,” sagt David in dem unvergleichlichen dreiundzwanzigsten Psalm, ja er scheint dies als den Höhepunkt göttlicher Gunst zu betrachten. Die Erhebung zum Hohenpriester, König oder Propheten ist ein Beweis der durch einen gottgeweihten Dienst bewirkten Umwandlung, und dieser Dienst wird durch die Salbung mit Öl im Namen des Herrn versinnbildlicht. Eine solche Zeremonie trägt in dem Maße zur Heilung der Kranken und zur Umwandlung der Sünder bei, wie ihre wahre Bedeutung erfaßt wird. Die Christen geben jedoch allgemein zu, daß Jesus die unendliche Macht und Gegenwart Gottes so vollständig bewiesen hat, daß eine Zeremonie nicht mehr nötig ist.
Das Wort Christus bedeutet „der Gesalbte,” und alle zeremoniellen Salbungen hatten den Zweck, den Christus sinnbildlich darzustellen. Sowohl die Lehre wie die wunderbaren Werke Jesu Christi beweisen, daß seine Salbung von Gott und somit geistig war. Er benötigte der Zeremonie der Ölung weder für sich selber noch für diejenigen, die er lehrte und heilte. Wiederholt und wiederholt betonte er, daß sein Beispiel allen Menschen zur Richtschnur dienen solle. Die bestehenden Formen und Zeremonien der Religion und des Heilens beachtete er nur, um ihre geistige Bedeutung darzustellen. Als er sich taufen ließ, sagte er deutlich, daß es sich um ein Zugeständnis an die religiösen Bräuche jener Zeit handele. Seine Taufe versinnbildlichte in der Tat seine Reinheit und Vollkommenheit, aber die Bibel enthält nichts, worauf die Behauptung sich stützen könnte, daß eine solche Zeremonie einem Menschen, der nicht so rein und vollkommen ist wie Jesus war, zum besonderen Segen dienen könnte. So mancher eifrige Befürworter der äußerlichen Taufe, des Abendmahls, der Fußwaschung oder der Ölung verwirft die Bestrebungen der Christlichen Wissenschaft, die Christus- Norm als die wahre Norm aller Menschen aufrechtzuerhalten.
Das Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, von Mrs. Eddy, gibt uns folgende Definition von Öl: „Heiligung; Nächstenliebe; Milde; Gebet; himmlische Inspiration” (S. 592). Wer einer dieser geistigen Eigenschaften entbehrt, ist in entsprechendem Maße unharmonisch, und um geheilt zu werden, muß er mit dem, was ihm zu fehlen scheint, ausgestattet oder gesalbt werden. Dies ist keine schwierige Aufgabe, wenn man erkennt, daß der Mensch Gottes Ebenbild ist, und ein Sichvergegenwärtigen dieser Tatsache erfüllt das Gebot, den Bedürftigen zu salben. Dies alles ist in Mrs. Eddys Erklärung des christlichen Heilens auf Seite 476 von Wissenschaft und Gesundheit einbegriffen: „Jesus sah in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen, der ihm da erschien, wo den Sterblichen der sündige, sterbliche Mensch erscheint. In diesem vollkommenen Menschen sah der Heiland Gottes eignes Gleichnis, und diese korrekte Anschauung vom Menschen heilte die Kranken.” Der gewissenhafte Schüler der Christlichen Wissenschaft heilt den kranken und sündigen Sterblichen durch die geistige Wahrheit, daß der Mensch Gottes Bild und Gleichnis ist, und dadurch salbt er ihn in der Tat „mit Öl in dem Namen des Herrn.”
Die Tugend flößt schon durch ihr Wesen Wohlgefallen ein und ist so lieblich, daß es sogar den Bösen natürlich ist, das Bessere gut zu heißen.—