Aus der Vergänglichkeit des irdischen Daseins ergibt sich, daß das wahre Leben des Menschen, um unzerstörbar zu sein, grundverschieden sein muß von dem, was die physischen Sinne wahrnehmen, ja daß der Mensch selber ganz anders ist als der materielle Augenschein bezeugt. Um die Wahrheit über den Menschen kennen zu lernen, müssen wir uns also gänzlich von der Materie abwenden. Ist dies nicht die logische Folgerung der biblischen Erklärung, daß der Mensch zu Gottes Ebenbild geschaffen wurde? Sicherlich ist mit Gottes Ebenbild nicht der sündige, sterbliche Mensch gemeint. Auf Seite 164 von The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany lesen wir: „Der Mensch lebt, webt und hat sein Dasein in Gott, der Liebe. Darum muß der Mensch leben, er kann nicht sterben.” Daß diese Folgerung absolut richtig ist, dafür lieferte uns Jesus den unumstößlichen Beweis. Sie offenbart die Wahrheit über des Menschen Beziehung zu Gott, und diese Wahrheit allein ist die Grundlage, auf der wir unser Heil ausarbeiten können.
Es herrscht im allgemeinen die Ansicht, der Mensch sei in steter Gefahr und er könne bestenfalls nur vorübergehend Schutz genießen. Wir werden gelehrt, der Tod folge jedem Menschen vom Tage seiner Geburt an auf den Fersen und warte nur auf den Augenblick, da er seine Beute erhaschen kann. Das Gespenst der Sterblichkeit erfüllt die Menschen in solchem Grade, daß es all ihr Tun überschattet, ja daß es sie sogar der Freude des Daseins beraubt. Und dies alles in christlichen Ländern, ohne daß sich eine Stimme dagegen erhebt — als ob es im ganzen Weltall keinen Gott gebe, keinen liebenden Vater, der Seine Kinder erhält und beschützt!
Als Jesus sagte: „Ihr wollt nicht zu mir kommen, daß ihr das Leben haben möchtet,” sprach er nicht zu toten Menschen, sondern zu solchen, die glaubten, sie lebten ein materielles Leben. Er wollte ihnen klar machen, daß die Sterblichkeit nicht das wahre Wesen des Menschen ausmacht, und daß daher der materielle Mensch im absoluten Sinne gar nicht lebt. Dadurch, daß Jesus seinen Freund Lazarus vom Tode auferweckte und später die Vorstellung des Todes für sich selber überwand, bewies er, daß es in Wirklichkeit kein von Gott getrenntes Leben oder Gesetz gibt. Er demonstrierte die absolute Leblosigkeit, d. h. die Nichtsheit von allem, was nicht in Gott seinen Ursprung hat oder Ihn nicht zum Ausdruck bringt. Er bewies, daß es nichts gibt, was zwischen den Menschen und seinen göttlichen Ursprung oder sein göttliches Prinzip treten kann.
Dem Christentum gemäß hat der Mensch kein von Gott getrenntes Leben, das mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Die einzige Stütze des materiellen Gesetzes, das beansprucht, gegen den Menschen zu wirken und seine endliche Vernichtung herbeizuführen, ist die Annahme, als ob der Mensch ein materielles Wesen sei, der Abkömmling des Fleisches anstatt des Geistes. Eine solche Annahme wird jedoch nirgends in der Schrift gerechtfertigt. Im Gegenteil, Jesus lehrte, daß die Sterblichen wiedergeboren werden, d. h. zu der Erkenntnis kommen müssen, daß das Leben geistig ist, bevor sie ins Himmelreich kommen können. Solange wir den Glauben an eine materielle Geburt und an menschliche Elternschaft nicht überwunden haben, können wir uns von der Sterblichkeit nicht frei machen. Daher die Wichtigkeit des Ausspruchs des Meisters: „Und sollt niemand Vater heißen auf Erden,” womit er sagen wollte, daß wir hier und jetzt keine andre Lebensquelle anerkennen sollen als Gott, Geist.
Der wahre Mensch ist kein Selbstprodukt, noch ist er menschlichen Ursprungs; daher ist er nicht das Opfer materieller Kräfte. Gottes Mensch ist der Ausfluß Gottes; er kann weder seiner Gottähnlichkeit beraubt noch von Gottes liebender Fürsorge getrennt werden. Das Leben ist unteilbar; daher ist es unmöglich, es teilweise zu beeinträchtigen ohne das Ganze in Mitleidenschaft zu ziehen. Ein Teil des Lebens kann ebensowenig verloren gehen wie ein Teil der Wahrheit. Wäre ein Mensch wirklich tot, so würde das heißen, daß das Leben selbst angefangen hat zu sterben; denn um einen Menschen zu töten, müßte er seiner Lebensquelle beraubt werden. Es ist undenkbar, daß das göttliche Leben seine Kundwerdung dahinsterben ließe. Und da es undenkbar ist, wissen wir, daß es unmöglich ist.
Es liegt auf der Hand, daß die Wahrheit des Seins als durch sich selbst bestehend betrachtet werden muß, denn es gibt nichts, was dem Leben und seiner Kundwerdung vorausgehen könnte. Auch kann das Leben nie sein wahres Wesen verlieren oder aufhören sich zu offenbaren. Für die materielle Denkart sind dies allerdings bloße Abstraktionen, obschon allgemein zugegeben wird, daß Gott die Ursache alles Seins ist. Ist aber beispielsweise Ehrlichkeit nicht auch ein bloßer abstrakter Begriff für eine unehrliche Denkart? Und doch wissen wir, daß Ehrlichkeit etwas überaus Praktisches ist. Ist das ewige Leben etwas Wirkliches, so kann es für den Menschen nichts Praktischeres geben als zu leben, und zwar trotz der gegenteiligen Ansichten der Sterblichen. Der Umstand daß der Tod noch Macht zu haben scheint, beweist noch lange nicht, daß das Leben endlich und zerstörbar ist, sondern es ist ein Anzeichen, daß wir die geistige Erkenntnis noch nicht erlangt haben, daß Gott das Leben ist.
Wäre der Mensch wirklich das Opfer einer das Leben zerstörenden Macht, so müßte diese unabhängig von Gott bestehen, ja sie stände mit Ihm im Widerspruch. Würde dadurch nicht die göttliche Herrschaft entthront und das Wesen Gottes beschränkt? In den Demonstrationen Jesu hat aber das Christentum unumstößliche Beweise, daß es nur eine Macht gibt, nämlich Gott; und Gott könnte den Tod oder irgend etwas Sterbliches nicht hervorbringen, ohne selbst sterblich zu sein. Daher steht das, was ein vergängliches Leben zu haben scheint, mit Gott, der Leben ist, in keinerlei Beziehung, ja es lebt und stirbt nirgend anders als in der sterblichen Vorstellung. Mrs. Eddy schreibt auf Seite 544 von Wissenschaft und Gesundheit: „Der Mensch existiert, weil Gott existiert,” und auf Seite 81 lesen wir: „In der Wissenschaft hängt die Unsterblichkeit des Menschen von der Gottes, des Guten, ab und folgt als die notwendige Folge der Unsterblichkeit des Guten.”
Jesus sagte: „Gott aber ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen.” Gott ist nicht ein Gott des Vergänglichen, sondern des Unvergänglichen, nicht des Sterblichen, sondern dessen, was ewig lebt. Außerhalb der menschlichen Vorstellung hat das ewige Leben keine Feinde, ja es war nie auch nur einen Augenblick in Gefahr. Der göttliche Geist ist nie durch Krankheit, Unglück oder Tod gefährdet. Wie können wir also glauben, es bestehe eine Macht, die imstande sei, unser Leben zu zerstören? Geben wir nicht täglich in unserm Gebet zu, daß der Mensch keine von Gott getrennte Lebensquelle hat?
Die Tatsache, daß das Ebenbild Gottes, d. h. der wahre Mensch, nur Gutes erfahren kann, bedarf keiner weiteren Beweisführung. Kann unser Bild im Spiegel etwas andres darstellen als unser eignes Selbst? Kann das Spiegelbild durch etwas andres als das Original erzeugt werden? Wie könnte demnach der zum Bilde Gottes geschaffene Mensch in Gefahr sein? Da das individualisierte Bewußtsein, welches wir Mensch nennen, nicht als unabhängige Wesenheit existiert sondern als Wiederspiegelung, so wissen wir, daß der Mensch als die Idee Gottes nicht der Vernichtung preisgegeben ist.
„Aber diese Lehre ist ja der reine Idealismus,” mag hier jemand einwenden. Sicherlich ist sie das. Aber es ist jener Idealismus, den Jesus von solch praktischem Wert fand, daß seine Beweisung eine neue Periode in der Weltgeschichte, ja eine neue Zeitrechnung zur Folge hatte. Es ist der Idealismus, der Christentum genannt worden ist, mit andern Wort, der Ausdruck der Wahrheit in Lehre und Ausübung. Die Lehre, daß der Tod das natürliche und unvermeidliche Ergebnis unsres Daseins sei, ist eine falsche Lehre; Jesus lehrte nicht also. Er sagte: „So jemand mein Wort wird halten, der wird den Tod nicht sehen ewiglich;” ferner: „Sehet, ich habe euch Macht gegeben ... über alle Gewalt des Feindes; und nichts wird euch beschädigen.”
Solange die Sterblichen nicht erkennen lernen, daß Gott das einzige Leben ist, haben sie keine Aussicht, von den Übeln der Sterblichkeit erlöst zu werden. Daher die Notwendigkeit des Erscheinens der Christlichen Wissenschaft; denn außerhalb dieser Wissenschaft hat die Menschheit keine Hoffnung, die Verheißungen des Meisters in dieser Welt je verwirklicht zu sehen. Die Christliche Wissenschaft offenbart die Wahrheit, daß das Gute, nicht das Böse, das Leben, nicht der Tod des Menschen Erbrecht ist; und die getreue Anwendung ihrer Lehre im Alltagsleben bringt die Überzeugung, daß der Mensch in Gott lebt und webt, jetzt und in Ewigkeit.