Es ist für den Christen höchst anregend und belehrend, an der Hand einer Konkordanz all die Stellen in der Heiligen Schrift nachzuschlagen, wo von Verständnis, Erkenntnis und Weisheit die Rede ist, namentlich solche, die die Notwendigkeit hervorheben, sich diese Eigenschaften anzueignen. Eine der bemerkenswertesten dieser Stellen findet sich im ersten Kapitel des Epheserbriefes, wo der Apostel Paulus zu den Christen jenes Missionsfeldes von seinem beständigen Gebet für sie spricht, daß „der Vater der Herrlichkeit” ihnen gebe den „Geist der Offenbarung” und „erleuchtete Augen” ihres „Verständnisses.”
Angesichts dieser Stelle und vieler andrer ähnlichen Inhaltes ist es doch sehr auffallend, daß die Christenheit so allgemein mit blindem Glauben zufrieden war, und daß auf den Kanzeln so wenig Gewicht auf geistige Erkenntnis gelegt wurde. Mrs. Eddy erkannte diesen Mangel sehr deutlich, und sie mehr als irgendein andrer Religionslehrer seit der Zeit Jesu und seiner Apostel wies auf die Unzulänglichkeit des blinden Glaubens hin. „Wenn wir uns nicht höher als zu blindem Glauben erheben,” schreibt sie, „dann haben wir die Wissenschaft des Heilens nicht erreicht und das Seelendasein an Stelle des Sinnendaseins nicht begriffen” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 167). Mrs. Eddy wies uns jedoch nicht nur auf die Notwendigkeit hin, geistige Erkenntnis zu erlangen, sondern sie lehrte uns auch, wie wir sie erlangen können. Sie gab uns wahrlich den „Schlüssel zur Heiligen Schrift,” der uns, wenn wir ihn richtig anwenden, diese Schatzkammer geistiger Weisheit öffnet.
Ist es nicht direkt auf geistige Trägheit zurückzuführen, wenn sich so viele wohlmeinende Christen mit einem Glauben zufriedengeben, der nicht auf eigner geistiger Erkenntnis und Erleuchtung beruht? Sie finden es so viel leichter, in religiösen Dingen andre für sie denken zu lassen; so viel leichter, anstandslos die von ihren Vätern ererbten religiösen Anschauungen anzunehmen, statt der Ermahnung zu folgen: „Prüfet aber alles, und das Gute behaltet;” so viel leichter, zu sagen: „Die Religion meiner Väter ist mir gut genug,” anstatt bereit zu sein „zur Verantwortung jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in [ihnen] ist,” wie uns Petrus ermahnt. Wie weit wäre die Welt in der Gotteserkenntnis vorgeschritten, und wie viele von den Segnungen, die diese Erkenntnis mit sich bringt, würde die Welt heute genießen, wenn nicht von Zeit zu Zeit Männer erstanden wären, die sich weigerten, auf dem betretenen Weg des religiösen Konservatismus weiterzugehen?
Angenommen, es hätte keinen Abraham gegeben, der sich von dem Götzendienst seiner Väter abwandte, dem also die Religion seiner Väter nicht gut genug war: wo wäre Israel mit seinem vorgeschrittenen Glauben an den einen, den alleinigen Gott? Gäbe es ein Christentum, wenn kein Jesus und keine Apostel gelebt hätten, die die unfruchtbaren Lehren und Zeremonien, in welche das Judentum hineingeraten war, von sich wiesen und eine Religion lehrten, die besser war als die ihrer Väter? Wo wäre der Protestantismus ohne einen Luther, einen Wyclif, einen Calvin und andre, die den religiösen Anschauungen ihrer Väter den Rücken kehrten und sich einem mehr geistigen Begriff von Gott zuwandten? Und tun wir nicht wohl, über folgende Frage ernstlich nachzudenken: Was hat den Sterblichen mehr Leiden und Elend gebracht, religiöser Zweifel und Unglaube, oder der blinde Glaube, dem sich die herrschsüchtigen und grausamen Neigungen der menschlichen Natur beigesellt haben?
Nun fragt vielleicht dieser oder jener: Bekennen sich die Christlichen Wissenschafter nicht zu vielem, was sie nicht verstehen? Glauben sie nicht an so manche Aussprüche Mrs. Eddys, ohne ihre Bedeutung erfaßt zu haben? Sehr wohl möglich; aber es ist doch ein großer Unterschied, ob man etwas glaubt, weil ein andrer es geglaubt und einem die Mühe erspart hat, die Wahrheit des Geglaubten selber festzustellen, oder ob man etwas glaubt, was sich offenbar aus dem teilweise Verstandenen und in gewissem Grade Bewiesenen ergibt. Wenn sich unser Glaube auf ein teilweise verstandenes Prinzip stützt, und wenn wir ernstlich danach trachten, uns durch Demonstration immer mehr mit dem Prinzip vertraut zu machen, so werden wir zu einer höheren Erkenntnis vorschreiten. Wir dürfen gewiß die religiösen Anschauungen eines Menschen annehmen, der ein hohes Maß geistiger Erkenntnis zu haben scheint; aber es darf nicht aus Bequemlichkeitsrücksichten geschehen, sondern vielmehr, weil wir guten Grund haben zu glauben, daß wir mit der Zeit imstande sein werden, diese Anschauungen zu beweisen. Folgende Erfahrung hat dazu beigetragen, dem Verfasser diesen Punkt klar zu machen.
Als Missionarskind verbrachte ich meine ersten Schuljahre in einer Weltgegend, wo die Zustände noch etwas primitiv waren und die angewandten Lehrmethoden manches zu wünschen übrig ließen. Der Unterricht wurde auf sehr mechanische Weise erteilt, d.h. ohne viel Bemühen, bei den Schülern logisches Denken zu entwickeln. Besonders war dies beim Rechnen der Fall. Aufgaben aller Art wurden durch die Anwendung von Regeln gelöst, ohne daß die Schüler das den Regeln zugrundeliegende Prinzip eigentlich verstanden hätten. Als wir z. B. an die Division eines Bruches durch einen Bruch kamen, wurde uns einfach gesagt, wir sollten den Divisor umkehren und quer durch multiplizieren — wenigstens war dies die Form, in welche wir Kinder die Regel kleideten. Obgleich mir nicht klar war, warum ich auf diese Art verfahren mußte, so hatte ich doch unbedingtes Vertrauen zu der Regel. Und warum? Weil sie mir richtige Resultate brachte. Die Lösungen, welche ich und andre durch Anwendung dieser Regel erhielten, waren offenbar korrekt, und somit konnte ich nicht umhin, an die Regel zu glauben. Später, als ich mit meinen Eltern nach einem Weltteil zog, wo bessere Lehrmethoden in Anwendung kamen, wurde mir erklärt, warum ich den Divisor umgekehrt und dann quer durch multipliziert hatte. Und weil ich nun „mathematische Erkenntnis” anwandte, konnte ich Aufgaben lösen, die früher, als ich mich hauptsächlich auf „mathematischen Glauben” verlassen mußte, für mich zu schwierig waren.
Gelangen wir nicht in ähnlicher Weise zum Verständnis der Christlichen Wissenschaft? Nachdem wir uns um Hilfe nach dieser Richtung gewandt haben, lesen und hören wir so manches, was unsre langjährigen Begriffe und Anschauungen direkt auf den Kopf stellt. Geist, so erklärt man uns, sei Substanz und Materie sei Schatten. Gesundheit und Heiligkeit werden als die Wirklichkeiten und Krankheit und Sünde als die Unwirklichkeiten des Lebens hingestellt. Zu diesen und andern überraschenden Aussprüchen sollen wir uns bekennen. Sind nun solche Lehren gefährlich und sollten wir uns daher vor ihnen hüten? Führen sie uns von Gott weg? Kann nicht ein jeder sofort einsehen, wie herrlich es wäre, wenn sie auf Wahrheit beruhten und ihre Wahrheit bewiesen werden könnte? Warum sie dann nicht versuchsweise annehmen, sie anwenden und von denen, die uns auf diesem Wege Hilfe in Aussicht stellen, auf unsern Fall anwenden lassen? Wenn wir dies ehrlich und mit offenem Sinn tun, werden wir gewiß gute Ergebnisse sehen.
So mächtig ist das Wort Gottes, wie es in der Christlichen Wissenschaft zum Ausdruck kommt, so „lebendig und kräftig,” daß dessen Anwendung selbst bei geringer geistiger Erkenntnis Wunder wirkt. Nicht nur wird sich unser körperlicher Zustand bessern, sondern wir werden auch ein Gefühl geistiger Erhebung verspüren, das uns bisher fremd gewesen ist. Solche Ergebnisse kräftigen unser Vertrauen zu den Erklärungen und Regeln, die wir anfangs zum großen Teil blindgläubig angenommen haben; und wenn wir dann Wissenschaft und Gesundheit in Verbindung mit der Bibel fleißig und aufmerksam lesen und dadurch in unsrer Arbeit Fortschritte machen, erkennen wir immer klarer das unsern Erklärungen zugrundeliegende Prinzip, und wir rücken vom Glauben zur Erkenntnis vor. Jetzt vermögen wir Probleme zu lösen, an die wir uns nicht heranwagten, als wir noch mit „Regeln” arbeiteten.
Warum glaubt ein Schüler in der Volksschule, daß die Zeit einer Sonnenfinsternis Monate im Voraus bestimmt werden kann? Besitzt er die Kenntnisse, es selber auszurechnen? Nein; aber er hat gesehen, wie Sonnenfinsternisse früheren Voraussagen gemäß eingetreten sind, und vor allem weiß er, daß der Astronom dieselben mathematischen Regeln anwendet, die zur Lösung von Aufgaben in den Volksschulen angewandt werden, nur in weit höherem und umfassenderem Maße. So verhält es sich auch mit dem Christlichen Wissenschafter. Er lernt erkennen, daß die Christliche Wissenschaft ein einheitliches Ganze ist, und daß der Erfolg in ihrer Ausübung im Verhältnis zu der Treue steht, mit der man ihr Prinzip und ihre Regeln in Anwendung bringt. Seine Fähigkeit, die kleineren Probleme auszuarbeiten, gibt ihm die Zuversicht, daß er mit der Zeit auch die größeren ausarbeiten wird. Er sieht ein, daß es in Wirklichkeit nicht schwieriger ist, die Toten zu erwecken, als eine Erkältung zu heilen, vorausgesetzt man hat die Fähigkeit erlangt, sein Verständnis von dem Prinzip und den Regeln der Christlichen Wissenschaft auf die höheren Probleme anzuwenden.
Jesus sagte: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.” Sind nicht allenthalben Beweise zu sehen, daß die Christliche Wissenschaft gute Früchte trägt? Fast ein jeder hat einen Freund oder einen Bekannten, dessen Leben durch den Einfluß dieser Lehre in körperlicher und moralischer Hinsicht umgewandelt worden und der zu Glück und Wohlstand gelangt ist. Sicherlich sollte niemand, der unter der schweren Last von Krankheit und Kummer ächzt, sich weigern, ein Religionssystem zu erforschen, das so viel verspricht und das bereits so herrliche Ergebnisse aufzuweisen hat. Die Welt bedarf doch so sehr eines höheren Maßes der Gesundheit und des Glücks. Lohnt es sich nicht der Mühe, den Anspruch der Christlichen Wissenschaft zu prüfen, daß sie der verheißene Tröster sei, der Geist der Wahrheit, der uns in alle Wahrheit leiten soll? Und von dieser Wahrheit sagte Jesus, sie werde uns frei machen. Die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes” umfaßt Gesundheit und Glück, für alle Menschen und alle Zeiten. Wer wollte nicht den Versuch machen, diese Freiheit zu erlangen?
Auf dem graden Wege zu Gott herrscht immer Klarheit.
Rantzau: „Der Dritte.”
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