Christliche Wissenschafter werden oft gefragt, warum sie nicht mehr wie früher laut oder mit äußerlicher Förmlichkeit beten. Gewöhnlich klingt durch diese Frage die Beschuldigung hindurch, daß die Christliche Wissenschaft etwas aufgegeben habe, was einen wesentlichen Teil der Religion bildet; und dazu gehört gewiß das Gebet, wenn es rechter Art ist. Nun hat aber der Christliche Wissenschafter gelernt, in allen Dingen, einschließlich des Gebetes, sich die Bergpredigt zur Richtschnur zu nehmen, und die Lehren Mrs. Eddys werfen ein solch klares Licht auf diese Reden Jesu, daß die Segnungen, die sie enthalten, in jeder menschlichen Notlage erreichbar sind. Zugleich sei aber gesagt, daß das Verfahren, etwas von Gott zu erflehen, was Er etwa übersehen hat oder zu tun nicht gewillt ist, dem Gebet der Christlichen Wissenschaft so ziemlich fremd ist.
Aus der nur von wenigen verstandenen Geschichte von dem Feigenbaum, der auf das Wort Jesu hin verdorrte, weil er keine Früchte trug, geht die wahre Bedeutung des Gebetes hervor. Wie wir im einundzwanzigsten Kapitel des Matthäus-Evangeliums lesen, erkannte Jesus den gleichen Zustand im Tempeldienst. Es gab da wohl Formen genug, aber keine Früchte. Doch gerade die Früchte waren es, nach denen das Volk hungerte, selbst die Kinder. Als diese Früchte durch die Heilung der Blinden und Lahmen, die zu Jesus in den Tempel kamen, hervorgebracht wurden, brachen die Kinder in lauten Jubel aus. Wenn wir weiterlesen, so sehen wir, wie der mentale Zustand, den der Meister im Tempel rügte, sich selbst in der sogenannten Natur kundtat; denn als er zum Feigenbaum kam und Frucht auf demselben suchte, weil ihn hungerte, fand er keine. Somit sprach er das Urteil aus, welches allem gilt, was nicht die Idee der Wahrheit sondern deren Nachbildung ist. Bemerkenswert ist, daß Jesus nicht betete, der Feigenbaum solle verdorren, sondern er erklärte, derselbe werde die Menschheit nicht mehr durch sein Aussehen täuschen können; und da die Christliche Wissenschaft Dinge in Gedanken auflöst (siehe Wissenschaft und Gesundheit, S. 269), so sehen wir, wie falsche Gedanken auf das Wort des Meisters hin vergingen wie Finsternis vor dem Lichte.
Hier mag nun der Außenstehende einwenden, Jesus habe es doch nicht nötig gehabt, zu Gott zu beten, um diese Veränderung zu bewirken, da er ja mit dem Vater eins war. Die vorliegende Geschichte stützt jedoch diese Einwendung keineswegs, denn als die Jünger von dem Verdorren des unfruchtbaren Feigenbaums sprachen, verlangte er von ihnen Demonstrationen der gleichen Art. Er sagte: „Wahrlich, ich sage euch: So ihr Glauben habt und nicht zweifelt, so werdet ihr nicht allein solches mit dem Feigenbaum tun, sondern, so ihr werdet sagen zu diesem Berge: Heb dich auf und wirf dich ins Meer! so wird’s geschehen.” Mit diesen klaren Worten kennzeichnete er das wahre Gebet als die Bekräftigung der Wahrheit, die allen Irrtum vernichtet.
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