Der Anfänger im Studium der Christlichen Wissenschaft wird zuweilen verwirrt, wenn er seine neue Auffassung von den Dingen den Zuständen anzupassen sucht, die noch zum großen Teil seine Umgebung ausmachen. Er weiß sich nicht wissenschaftlich hindurchzufinden zwischen der Wahrheit, daß das Gemüt unendlich und somit Alles ist, und dem Vorhandensein und den Forderungen der materiellen Zustände im Alltagsleben. Was, so fragt er, ist unsere richtige Haltung der Tatsache gegenüber, daß der Mensch seinem Wesen nach geistig ist, während er sich in so mancher Hinsicht den fleischlichen Verfahrungsarten anpassen muß? Oder wie können wir konsequenterweise behaupten, wir seien Gottes Kinder, wenn unser gegenwärtiger Bewußtseinszustand so unendlich weit von der Verwirklichung dieser Behauptung entfernt scheint?
Wenn im Bewußtsein die Wahrheit zu dämmern beginnt, daß alle Dinge in Wirklichkeit geistig sind, so ist der ungezähmte Impuls nur zu schnell bereit, diese Tatsache in ihrer ganzen Tragweite auf die menschliche Erfahrung anzuwenden, bis er dann erkennen lernt, wie unendlich groß die Entfernung ist zwischen seiner ersten winzigen Wahrnehmung der Wahrheit und seiner endgültigen Demonstration des reinen geistigen Bewußtseins. Obschon in der göttlichen Offenbarung der Mensch als Gottes Bild und Gleichnis erkannt wird, so sieht ihn doch der menschliche Sinn nicht als solches, und der Versuch, diesen auf der absoluten Wissenschaft beruhenden Schluß mit den schwachen Sterblichen in Beziehung zu bringen, führt sehr oft zu Enttäuschung.
Der Übergang der Menschheit von materiellen Vorstellungen zur geistigen Erkenntnis vollzieht sich nicht in einem Augenblick. Das Alte verschwindet nicht plötzlich aus unserer Wahrnehmung; aber für den geistig erwachenden Menschen stellt es in der Erfahrung nur Zustände dar, deren Falschheit er erkennt und anerkennt, denen er jedoch durch reiferes Verständnis und durch Demonstration entwachsen muß. Eine der ersten Aufgaben des Studierenden ist die, im Hinblick auf seine Erlösung sich über die Bedeutung des Wortes Wachstum klar zu werden. Die menschliche Wahrnehmung einer geistigen Wahrheit ist erst nur schwach und sollte Wurzel fassen, wachsen und sich entwickeln können, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, durch das ungestüme und gedankenlose Ausreißen des daneben wachsenden Unkrautes geschädigt zu werden. In dem Maße, wie dieses Wachstum von menschlichem Willen und Verlangen ungehindert vor sich geht, fällt das Alte durch das Reifen der geistigen Erfahrung von selbst weg, und der Gedanke paßt sich in harmonischer Folge den höheren Forderungen der Wahrheit an.
Das ungestüme Drängen, welches das Ziel gleich am Anfang erreichen möchte, oder die übertriebene Gewissenhaftigkeit, die sich fortwährend darüber aufhält, daß noch so viel Weltliches im Bewußtsein zu sein scheint, wird durch Geduld und Erfahrung den Unterschied zwischen der absoluten Wahrheit und der materiellen Annahme kennen lernen und dadurch willens werden, standhaft auf die Verwirklichung des geistigen Ideals hinzuarbeiten. Jesus betete nicht, daß seine Jünger aus der Welt genommen werden sollten, sondern daß sie von dem Bösen in der Welt bewahrt möchten: und dies tut die richtige Stellung jedes Christlichen Wissenschafters in bezug auf seine gegenwärtige Lage und Umgebung dar. Ein Schüler sollte nicht versuchen, irdischen Zuständen gegenüber eine radikalere Stellung einzunehmen als der Meister.
Die Christliche Wissenschaft ermutigt durchaus nicht den Glauben, daß ihre Schüler etwa durch einen geheimnisvollen Vorgang in geistige Wesen verwandelt werden sollen, oder daß sie sofort in das Reich des geistigen Bewußtseins eingehen werden. Allerdings ist die vollkommene Vergeistigung des Denkens das Endziel unserer Arbeit; aber diese Vergeistigung verlangt, daß wir erst alle Sünde und alle Materialität ablegen. Das Christentum soll die Menschheit befähigen, ihr Heil auszuarbeiten, d. h. ihren falschen Begriff vom Dasein durch das Erlangen der Erkenntnis der Wahrheit zu berichtigen — nicht in dem Sinne, daß die Menschheit eine Theorie annimmt, sondern daß sie den menschlichen Begriff von Leben umwandelt. Und dieser Vorgang des Sichherausarbeitens aus dem Irrtum findet natürlicherweise inmitten des Irrtums und angesichts seiner Täuschungen und seines falschen Scheins statt.
Der Glaube an die Christliche Wissenschaft entrückt uns somit nicht der Berührung mit den Ereignissen des sterblichen Daseins und unserer Teilnahme an denselben; aber in dem Maße, wie diese Lehre verstanden und aufgenommen wird, wird das Denken mehr vergeistigt, und dieser Vorgang der Umwandlung geht genau so rasch vor sich wie die Sterblichen bereit sind, ihre falschen Begriffe aufzugeben. Da sich die Christlichen Wissenschafter noch nicht über einen materiellen Begriff der Dinge erhoben haben, so darf sich niemand darüber beunruhigen, daß seine Umgebung immer noch materiell zu sein scheint, oder daß er sich und andere in materieller Gestalt sieht und an den gewöhnlichen Angelegenheiten der menschlichen Wesen Anteil nimmt.
Was tuts, wenn unser Alltagsleben von diesem Ideal noch weit entfernt scheint? Wir haben keinen Grund zur Entmutigung, solange wir die Wahrheit in dem Maße, wie wie sie verstehen, gewissenhaft anwenden. Unsere Führerin gibt uns die ermutigende Versicherung: „Gott verlangt Vollkommenheit, aber nicht eher, als bis die Schlacht zwischen Geist und Fleisch ausgefochten, und der Sieg gewonnen ist“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 254). Und wiewohl uns Paulus auffordert, „den alten Menschen,“ d. h. den fleischlichen oder materiellen Sinn, abzulegen, so behauptet er doch keineswegs, es „schon ergriffen“ zu haben. Wir sollten uns nicht von dem Versucher wegen unserer Unvollkommenheiten beirren lassen, solange wir aufrichtig bestrebt sind, diese zu berichtigen. Die quälende Selbstverdammung im Hinblick auf die ungeistigen Zustände, die noch herrschen, oder auf den Umstand, daß die Angelegenheiten dieser Welt fortfahren uns zu beschäftigen, geht aus dem gleichen Geist des Bösen hervor, der Jesus zu veranlassen suchte, sich von der Zinne des Tempels hinabzustürzen und dadurch seine Geistigkeit zu beweisen.
Die Christlichen Wissenschafter behaupten nicht, sich gänzlich von der sogenannten materiellen Welt losgemacht zu haben; aber es geht in ihrem Bewußtsein eine Umwandlung vor, die ihnen die Gewißheit gibt, daß sie nicht von der Welt sind. Sie erkennen an, daß die große Wahrheit von des Menschen geistigem Sein und göttlicher Sohnschaft hier und jetzt zur Lösung ihrer Alltagsprobleme anwendbar ist, und sie finden, daß sie jedesmal, wenn sie das Böse von dieser Grundlage aus überwinden, höher steigen. Damit sie einen klaren Blick behalten und damit ihre Erwartungen die rechte Richtung nehmen mögen, bestehen sie auf der absoluten Wahrheit, daß der Mensch das Spiegelbild Gottes ist, und sie sind überzeugt, daß dies mit der Lehre Jesu übereinstimmt. Ihr Verhalten ist ähnlich demjenigen des Apostels, als er an die Korinther schrieb: „Es ist alles euer,“ wiewohl dieses geistige Besitzen nicht in vollem Maße sichtbar war. Auf gleiche Weise behält der Christliche Wissenschafter die Wahrheit über die Dinge vor Augen und sieht sie so, wie sie in Wirklichkeit sind, nicht wie sie einem falschen Sinn vorkommen; und er ist bestrebt, sein Denken rein zu erhalten, während er an den menschlichen Angelegenheiten Anteil nimmt.
„Eine veredelte Annahme,“ schreibt Mrs. Eddy, „ist ein Schritt aus dem Irrtum heraus; sie hilft uns zum nächsten Schritt vorwärts“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 296): und diese Veredelung menschlicher Zustände, nicht aber der eigensinnige Versuch, sie zu verlassen, ist das Verhalten, das die Weisheit billigt. In dem Verhältnis wie diese Veredelung vor sich geht und die nachfolgenden Schritte getan werden, ist das menschliche Denken bereit, das Materielle für das Geistige aufzugeben, bis es zuletzt die Fähigkeit entwickeit hat, das Sein als völlig geistig zu erkennen und vom endlichen Sinn in das Verständnis der unendlichen Möglichkeiten einzugehen.
Die Christlichen Wissenschafter behaupten nicht, als menschliche Wesen vollkommen zu sein; aber sie lernen in stets zunehmendem Maße, durch die Täuschungen der materiellen Sinne hindurchzuschen und das Wirkliche und Ewige in dem, „was ... unsichtbar ist,“ zu erkennen. Daher finden sie ihre rechtmäßige Stellung nicht nur zu den unsichtbaren Wirklichkeiten, sondern auch zu dem Vergänglichen. Demütigen Herzens lernen sie die Unterscheidungslinie zu ziehen zwischen dem, was wirklich ist, und dem, was wirklich erscheint — vom Irrtum zu reden ohne an seine Wirklichkeit zu glauben, und die Bekundungen der falschen Sinne furchtlos zu betrachten. Wenn sie, wie der Apostel, täglich „dem vorgesteckten Ziel“ nachjagen, so können sie ebenfalls unverzagt bleiben, des endgültigen Erfolges gewiß.
