Seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst und gegen andere so zu handeln, wie man selbst behandelt zu werden wünscht, bedeutet ein und dieselbe Regel. Die goldene Regel [als Sittenregel gedacht, wie im Englischen] ist ein geistiges Erbteil der Menschheit, welches alle diejenigen wert halten, die Gott und den Menschen lieben. Sie ist selbstverständlich, wenn man ihren geistigen Sinn erfaßt hat, und es läßt sich nicht über sie streiten. Und doch widersetzen sich die Welt, das Fleisch und der Teufel ihrer praktischen Anwendung. Dieser tiefwurzelnde Widerstreit wird nur von der Christlichen Wissenschaft mit Erfolg beseitigt, weil nur sie es mit den mentalen Suggestionen aufnehmen kann, und zwar dadurch, daß sie deren Machtlosigkeit kundtut. Die goldene Regel fordert rechtes Denken als Basis zum rechten Handeln. Um sie streng zu befolgen, muß man ein Verständnis von der christlichen Metaphysik haben, denn diese offenbart die Nichtsheit des materiellen Lebens und der materiellen Erfahrung. Die Erkenntnis der unendlichen Güte Gottes und der Tatsache, daß Gott Gemüt ist, gibt uns die wissenschaftliche Gewißheit, daß ein vollkommenes Gemüt das Weltall, einschließlich des Menschen, erzeugt und erschaffen hat und diese Seine Schöpfung jetzt und immerdar regiert. Die Einheit Gottes und des Menschen beweist die Wesenlosigkeit des Hasses, des Neides, der Furcht und aller anderen mentalen Begriffe, die wider die goldene Regel streiten, und sie lehrt uns, unsere Feinde zu lieben, wodurch sie diesen Segen anstatt Fluch bringt.
Die Welt ist aufgerüttelt worden und lernt immer mehr die Gefahren des falschen Denkens erkennen. Sie sieht sich gezwungen, auf die Umtriebe einer feindlichen Psychologie zu achten, die die Welt durch die Übertretung der goldenen Regel zu beherrschen suchte, mit anderen Worten, durch das Aussenden mentaler Suggestionen, die den Zweck haben, das menschliche Gemüt zu verwirren und es sich dadurch zu unterwerfen. Gegen solche Versuche, mentalen Einfluß auszuüben, hat die Christliche Wissenschaft ein probates Mittel. Sie lehrt die Menschheit, daß niemand es nötig hat oder durch ein vorgebliches Gesetz gezwungen werden kann, böse Suggestionen anzunehmen oder sie seinem Denken einzuverleiben; daß es vielmehr dem Menschen freisteht und er berechtigt ist, im Einklang mit den Geboten Gottes, des göttlichen Gemüts, zu denken und dadurch den mentalen Fallgruben auszuweichen, die das sterbliche Gemüt schlau und geschickt bereitet hat.
Mrs. Eddy warnte ihre Nachfolger schon vor Jahren sowohl vor dem unbewußten falschen Denken, das allen Sterblichen eigen ist, wie auch vor den Methoden des bewußten falschen Denkens, die im Verlauf des Weltkrieges bloßgelegt worden sind. In „Miscellaneous Writings“ sagt sie (S. 31): „In einer Weise mental zu argumentieren, daß das Glück eines Mitmenschen bösen Einflüssen ausgesetzt und er moralisch, physisch oder geistig geschädigt wird, ist ein Vergehen gegen die goldene Regel und stößt die wissenschaftlichen Gesetze des Seins um.“ Der absichtlich falsch Denkende gebraucht die allgemein anerkannten Falschheiten der Welt, um die geistig Gesinnten anzugreifen und sie vom Gehorsam gegen Gott und vom Befolgen der goldenen Regel abzuhalten. Da das Gesetz der Welt in allen Fällen dem Gesetz Gottes weichen muß, so flüstert der Ränkeschmied denen zu, die die Kranken durch geistige Mittel heilen: „Was wird die Welt denken?“ und denen, die um die Freiheit kämpfen: „Was werden die Leute sagen?“ Als die Tochter der Herodias um das Haupt Johannes des Täufers bat, war der König „betrübt,“ wie wir in der Heiligen Schrift lesen; „doch um des Eides willen und derer, die am Tische saßen, wollte er sie nicht lassen eine Fehlbitte tun.“ Obgleich Pilatus Jesum nicht dem Pöbelhaufen übergeben wollte und obgleich ihm sein Weib ernstlich davon abriet, so tat er es doch, weil er „gedachte dem Volk genugzutun.“ Nur moralischer Mut, der auf geistiger Überzeugung beruhte, konnte unserer Führerin, Mary Baker Eddy, die Kraft verleihen, die sie nötig hatte, um der Welt das umwälzende Buch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ zu geben. Wenn die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft der Stimme der Welt gehorcht hätte, so hätte sie der Welt keinen Segen bringen können.
Einem [englischen] Sprichwort zufolge ist es eine schlechte Regel, die sich nicht umkehren läßt. Der unvermeidliche Folgesatz der goldenen Regel wird nicht immer genannt, ist aber zum Fortschritt des Christlichen Wissenschafters unerläßlich. Der fortschrittliche Christ muß nicht nur danach trachten, gegen andere so zu handeln, wie er selbst behandelt zu werden wünscht, sondern er muß sich auch selbst so behandeln, wie er andere zu behandeln sucht. Mancher mitleidige Christ ist nachsichtig gegen andere, aber grausam gegen sich selbst. Worin liegt der Unterschied zwischen der eigenen Auffassung von sich selbst und der eines anderen? Sind sie nicht beide falsch und bedürfen sie nicht beide der Berichtigung? Ist dein Nächster mehr zur Erlösung berechtigt als du? Das gleiche Maß der liebevollen Hilfe, die der wissenschaftliche Christ anderen zuteil werden läßt, sollte er auch sich selbst zuteil werden lassen, denn dadurch bewirkt er sein eigenes Seelenheil in streng wissenschaftlicher Weise und im Einklang mit der goldenen Regel. Wir müssen aufhören, dadurch das Werk des Übeldenkenden zu betreiben, daß wir uns selber verdammen, anstatt uns zu segnen. Wir können uns nicht heilen, wenn wir uns hassen, wie wir ja auch unseren Mitbruder nicht heilen können, wenn wir ihn hassen. Im Fall von Krankheit oder Sünde müssen wir ebensowohl uns selber ermutigen wie andere. Wir müssen ebenso bereit sein, unsere eigenen Fehler und guten Eigenschaften zu sehen wie die Fehler und guten Eigenschaften unseres Nächsten. Im Grunde genommen kommt ja alles Gute von dem einen Vater-Mutter Gott unser aller, und alles Böse ist wesenlos.
Die Kinder erfassen sehr rasch die Vernünftigkeit der goldenen Regel, und bei ihnen wirkt sie auf beide Art, denn sie verdammen sich nicht selbst. Die falsche Theologie und die Meinungen der Welt mögen diese Kleinen dazu heranziehen, Steine der Verdammnis auf sich selbst zu werfen; aber der unverderbten Jugend ist das fremd, und sie brauchen darin von den Erwachsenen keine Unterweisung. In der gegenwärtigen Zeit der Prüfung sollte den Christlichen Wissenschaftern folgender einfache und praktische Rat Mrs. Eddys von hohem Wert sein: „Wir sollten uns mehr mit dem Guten als mit dem Bösen vertraut machen und sollten uns ebenso sorgfältig vor falschen Annahmen hüten, wie wir unsre Türen gegen das Eindringen von Dieben und Mördern verriegeln. Wir sollten unsre Feinde lieben und ihnen von der Basis der goldenen Regel aus helfen; aber wir sollten es vermeiden, denen Perlen vorzuwerfen, die sie mit den Füßen zertreten und dadurch sich und andre berauben“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 234).