Der Ausspruch: „Die Christliche Wissenschaft stellt Entfaltung, nicht Zuwachs dar“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 68), ist einer jener hilfreichen, erfrischenden Gedanken, an denen Mrs. Eddys Schriften so reich sind. Er schließt vieles in sich, was grundlegend in der Christlichen Wissenschaft ist, indem er darauf hinweist, daß sich alles Dasein kraft eines ewigen, unveränderlichen Gesetzes entwickelt hat, und daß nichts durch das bloße Zusammentreffen von Umständen geschieht.
Das Entfalten der Blume versinnbildlicht für alle Schüler der Wissenschaft des Seins einen geistigen Vorgang. „Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen“— diese Aufforderung des Wegweisers hat schon immer einen tiefen Eindruck auf die Christen gemacht, selbst als sie ihre wirkliche Bedeutung noch nicht erkannten. Die Lilie offenbart das Wirken des göttlichen Gesetzes. Mrs. Eddy sagt: „Durch eignes Wollen sprießt kein Grashalm hervor, knospet kein Strauch im Tal, entfaltet kein Blatt seine schönen Umrisse, kommt keine Blume aus ihrer klösterlichen Zelle hervor“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 191). Das sterbliche Gemüt kann keine einzige Blüte erklären. Der menschliche Verstand ist nicht imstande, eine einzige Blume zusammenzusetzen. Jede wirkliche Schöpfung, sei es Blume oder Mensch, ist die wissenschaftlich und vollkommen entfaltete Idee Gottes, des Gemüts, des Prinzips. Die Blume, wie wir sie sehen, ist der sichtbar gemachte geistige Begriff; nichts, was wahr ist, kann das Erzeugnis des Zufalls sein. Sobald wir das Gesetz verstehen, das der Blume und dem Menschen zugrunde liegt, kennen wir sowohl die Blume wie den Menschen.
Laßt uns Jesu Aufforderung gehorchen: „Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen,“ und laßt uns von ihnen die inspirierenden Wahrheiten des Seins lernen. Die Lilie ist vollkommen in dem schöpferischen Gemüt, selbst wenn die menschlichen Sinne sie nicht wahrnehmen können. Sie ist als Knospe ebenso vollkommen wie als volle Blüte. Sie fürchtet nicht, daß sie etwas verlieren oder daß ihr etwas zustoßen könnte, weil sie ihre Blüte ohne Zögern vor der Welt öffnet. Wir können uns nicht vorstellen, daß sie sich über die Art und Weise ihrer Entfaltung in Streiterörterungen einlassen oder die Blüte vor der Knospe und den Samen vor seiner Zeit erwarten könnte. Sie erwartet nicht, daß jemand komme und sie aufbreche. Sie ist weder zu hastig noch zu langsam in ihrem Wachstum, denn ihre Entfaltung vollzieht sich ordnungsgemäß und symmetrisch. Es ist undenkbar, daß ihr Wachstum durch den Zweifel, ob sie ihre völlige Entwicklung erreichen werde, gehindert werden könnte. Die Blüte, ja die ganze Pflanze wendet sich unbewußt dem Lichte, dem Symbol des Ursprungs und der Versorgung zu. Sie braucht keine Hilfe von außen — nicht als ob sie für sich selbst verantwortlich wäre, sondern weil sie allzeit von Gottes Gesetz regiert wird. Das elterliche Gemüt befriedigt alle ihre Bedürfnisse, sendet ihr Sommerregen, Sonnenwärme, Morgentau und die Liebkosung der sanften Lüfte. Und bald darauf erscheint sie in prächtigem Kleide, als herrliche Verwirklichung der Absicht ihres Schöpfers.
Wenn nun dies alles in bezug auf die Blumen des Feldes wahr ist, muß es dann nicht in viel höherem Maße in bezug auf den Menschen wahr sein, die höchste Idee des himmlischen Vaters? Sollten wir uns nicht ebenso getrost und harmonisch dem geistigen Gesetz von des Menschen Entfaltung anvertrauen? Wenn wir uns nur von den falschen Beschränkungen und unrichtigen Vorgängen, die uns das sterbliche Gemüt einflüstert, frei machen wollten, so würde unser geistiges Wachstum schneller vor sich gehen. Kann man wirklich annehmen, daß das Gesetz, das sich in der Blume offenbart, in seinem Wirken zuverlässiger ist als das Gesetz, das des Menschen Entwicklung bestimmt, des herrlichsten Werkes Gottes, oder daß es der Mensch weniger nötig hätte, sein wahres Selbst völlig zu erkennen?
Wenn sich irgendein Makel an der Blume zeigt, so ist das kein Bestandteil der Blume. Auf Seite 78 von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ sagt Mrs. Eddy: „Die verwelkende Blume, die verkümmerte Knospe, die knorrige Eiche, das reißende Tier — ebenso wie die Disharmonien von Krankheit, Sünde und Tod — sind unnatürlich.“ Was wäre das wohl für ein Gesetz, das sich als ein krankhafter Zustand kundtäte? Gibt es ein Gesetz der Unvollkommenheiten? Wenn es ein solches gäbe, so könnte es kein Gesetz mehr für die vollkommene Blume geben. Ist es vernünftig, dem Menschen Gebrechen, Mißbildungen oder Verunstaltungen zuzusprechen, wenn man offen zugibt, daß sie kein rechtmäßiger Teil der niedrigsten Pflanze, des einfachsten Strauches sind? Da des Menschen Entwicklung dem göttlichen Gesetze gemäß ein Vorgang der Entfaltung ist, so muß sie absolut und unbedingt vollkommen sein. Diese Entfaltung zum vollkommenen Sein offenbart sich niemals in falschem Wachstum oder in irgendwelcher Art der Unvollkommenheit, und zwar deshalb nicht, weil der wirkliche Mensch gleich der wirklichen Blume rein geistig ist.
Liegt nicht ein tiefer Sinn darin, daß die Blume gewöhnlich ihre vollendete Vollkommenheit durch eine Fülle von Wohlgeruch ankündigt? Es ist als wollte sie der gütigen Macht danken, die ohne ein Verdienst der Blume all den Zauber ihrer Farbe und ihrer Gestalt hervorgebracht hat. Die Lilie auf dem Felde spendet ihren süßen Duft reichlich und im Überfluß, ohne an Belohnung zu denken. Wenn die Blume ihre volle Entfaltung erreicht hat, strömt sie ihren Wohlgeruch am verschwenderischsten aus, was darauf hinweist, daß Entfaltung sowohl von Dankbarkeit begleitet wie auch durch dieselbe verkündigt werden muß. Während der Mensch in der Erkenntnis des wahren Seins wächst, kann er ebensowenig seine Güte und Freude in sich verschließen, wie die Blume ihren Duft. Gleich dem herrlichen Wohlgeruch der Lilie oder der Rose dringt des Menschen frohe Dankbarkeit für Harmonie und Frieden, die er geistig gefunden hat, hierhin und dorthin in die Straßen und Gassen, zu den Kranken oder zu den Sündern, und überall, wohin sie gelangt, läßt sie größeres Glück zurück und vermindert sie Unwissenheit, Leiden und Sorge.
Wiewohl der sterbliche Mensch nicht einmal eine Blume zusammenfügen noch von einer materiellen Basis aus ihr Dasein erklären kann, so ist er doch imstande, ihre menschliche Bekundung zu verbessern. Aber wie? Nur dadurch, daß er das Gesetz besser verstehen lernt, das sie regiert, und dieses Gesetz praktisch anwendet, um eine vollkommenere Darstellung der Blume hervorzubringen. Könnte ein Botaniker oder ein Gärtner eine schönere Lilie hervorbringen, wenn er sie wie eine Rose behandelte? Können wir die dem Menschen verheißene Herrschaft über das Fleisch und die Welt dadurch erlangen, daß wir von der Voraussetzung ausgehen, daß er etwas sei, was er nicht ist, oder indem wir die abergläubige Annahme hegen, daß das Leben der toten und unintelligenten Materie innewohne?
Da nun die Blume der deutliche Ausdruck eines Gesetzes ist, das von der Basis eines vollkommenen Vorbildes aus wirkt, so sollten wir auch erkennen, daß der wirkliche Mensch die vollkommene und bis ins einzelne genaue Offenbarwerdung des vollkommenen Vater-Mutter Gottes ist. So wie die Blume erst Samen trägt, nachdem sie geblüht hat, so kommt auch die Frucht nicht vor der Entfaltung, sondern erst nach derselben. Wenn wir die unermeßlichen Schätze ernten wollen, die die Erkenntnis Gottes und Seiner geistigen Idee mit sich bringt, müssen wir durch unbedingten Gehorsam gegen das Gesetz des Prinzips, das immer diesen herrlichen Zweck verfolgt, nach vollkommener Entfaltung trachten.
