Diejenigen, die schon recht viel von der Christlichen Wissenschaft verstehen, wollen im allgemeinen noch mehr von ihr wissen. Wer am erfolgreichsten die Wahrheit demonstriert hat, bestrebt sich meist am redlichsten, noch bessere Arbeit zu tun. Aber ehe wir Demonstrationen vollbringen können, müssen wir das nötige Verständnis haben, und die Vorbedingung zum Verständnis der Christlichen Wissenschaft ist das Studieren derselben. Das Studium, welches uns zum Fortschritt in der Christlichen Wissenschaft verhilft, erfordert keinen hohen Grad von intellektuellem Wissen oder von übernormaler geistiger Entwicklung. Wir brauchen keine Verstandesriesen zu sein wie Macaulay, der die längsten Gedichte nach einmaligem Lesen Wort für Wort aufsagen konnte und „Das verlorene Paradies“ und „Die Pilgerfahrt“ auswendig wußte.
Viele von uns treten an die Christliche Wissenschaft heran, ohne ans Studieren gewöhnt zu sein. Wir mögen die Vorteile einer gründlichen Erziehung nicht genossen haben, oder wir haben vielleicht frühere Gelegenheiten nicht benutzt, denken zu lernen, was ja bei aller Erziehung die Hauptsache ist. Vielleicht bestand unser Lesestoff in der pikanten Kost, die die Tageszeitung, die populäre Monatsschrift und der seichte Roman uns bietet und die gleich dem Schnaps des Gewohnheitstrinkers wohl anregen, aber nicht befriedigen kann. Nachdem wir erkannt haben, daß aufmerksames Studium zum beständigen Fortschritt in der Christlichen Wissenschaft notwendig ist, bedauern wir naturgemäß unser Unvermögen, aufmerksam zu lesen und sozusagen geistig auf unbekannten Wegen zu wandern. Es fällt uns schwer, die bestimmte Meilenzahl auf dem Wege zur Erkenntnis zurückzulegen, und wenn wir die leisen Vorschläge des Irrtums nicht energisch von uns weisen, kehren wir wohlmöglich zu unserem intellektuellem Schnapstrinken zurück, indem wir unser Lehrbuch gegen unsere uns einst so teuere Lektüre eintauschen, und wenden uns nur dann der Christlichen Wissenschaft zu, wenn uns der Irrtum so zusetzt, daß uns das Leben ungemütlich wird. Vielleicht wollen wir das Buch, das uns so vieles gegeben hat, nicht ganz und gar beiseite legen, und lesen daher pflichtgetreu täglich eine gewisse Anzahl Zeilen oder Abschnitte, damit wir eines Tages sagen können: „So, nun habe ich's doch von vorn bis hinten gelesen.“ Aber es bedeutet einen großen Unterschied im Resultat, ob man flüchtig oder aufmerksam liest. Ersteres mag ein oberflächliches Pflichtgefühl befriedigen, aber nur das letztere führt zu geistigem Wachstum.
Der Schüler, welcher liest, ohne das Gelesene zu studieren, mag wohl die Worte auf der Zunge haben, aber ihm entgeht der Geist derselben. Mrs. Eddy gibt uns in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ auf Seite 113 die Versicherung: „Das Lebenselement, das Herz und die Seele der Christlichen Wissenschaft ist die Liebe.“ Der Schüler obiger Art mag noch so sehr in der Christlichen Wissenschaft bewandert sein, gewandt zitieren können und immer ein eindrucksvolles Wort bereit haben, aber die Liebe, welche befreit, welches das harte Gestein des Irrtums löst und die richtige Idee von Gott verleiht, kennt er nicht.
Mrs. Eddy ermahnt uns in Wissenschaft und Gesundheit auf Seite 495: „Studiere den Buchstaben gründlich, und nimm den Geist in dich auf.“ Mit dem schlichten Wort „studieren“ hat sie in der ihr eigenen klugen Weise ein reiches Feld für geistige Tätigkeit erschlossen, und die Ergebnisse sind unserem Fleiße entsprechend. Aber wie schwer auch immer diese Aufgabe denen erscheinen mag, die das Studieren nicht gewöhnt sind, sie haben keinen Grund, mutlos oder verzagt zu sein. In der Christlichen Wissenschaft können uns keine falschen Vorstellungen der Unfähigkeit, des Mangels an Zeit, Erziehung oder Begabung am Fortschritt hindern, wenn wir wahrhaft bemüht sind, Gott besser zu erkennen. Der Weg, der zur Heimat des Prinzips führt, zeigt deutliche Spuren, und obgleich er über steile und schroffe Felsen führt, kann ihn doch jeder gehen, der den rechten Willen hat. Die Felsen sind nicht dazu da, uns abzuschrecken, sondern sie sollen bessere Bergsteiger aus uns machen.
Dem Schüler, der es schwer findet, sein Lehrbuch richtig zu studieren, oder das in demselben zu finden, was es für ihn enthält, fördert sich durch die Erkenntnis, daß jede Vorstellung der Unfähigkeit oder geistigen Beschränktheit Lug und Trug ist, daß die Neigung und die Fähigkeit, zu studieren und zu verstehen, ein angestammtes Recht ist auf Grund der Beziehung des Menschen zum Prinzip, und daß nichts Gottes Kinder dessen berauben kann, was Er ihnen gegeben hat.
Wenn dieser Gedanke in dem Schüler vorherrschend ist, kann er sein Studium in vernünftiger Weise fortsetzen, indem er Ideen sucht und nicht bloß Worte wiederholt; denn Worte sind nur Fahrzeuge, welche die Ideen in die Schatzkammern des Bewußtseins bringen. Es liegt nun an uns und nicht an demjenigen, der die Worte für uns auf den gedruckten Seiten angeordnet hat, ob wir dem Buche das entnehmen, was es für uns enthält. Der Satz, welcher seine heilsame Bedeutung dem bietet, der sie sucht und versteht, birgt dieselbe Botschaft für alle. Es gibt beim Studium der Christlichen Wissenschaft keine besondere Spenden oder persönliche Auslegungen, sondern dieselben Mittel und Wege, die der eine brauchbar und nützlich fand, stehen allen zur Verfügung.
Unbekannte Worte verlieren ihren fremden Klang, wenn wir ein Wörterbuch gebrauchen. Wer die Augen offen hat, findet neue Anwendungen für alte Worte, und daraus erfolgt ein höheres Verständnis, denn Mrs. Eddy wählte ihre Worte und Sätze mit großer Sorgfalt und benutzte kein Wort ohne einen besonderen Grund. Daher ist es sehr empfehlenswert, die verschiedenerlei Anwendungen eines gegebenen Wortes miteinander zu vergleichen. Zu dieser Arbeit sind die Konkordanzen unentbehrlich. Oftmals ist es gut, einen Bleistift zur Hand zu haben, um Stellen, die uns besonders von Nutzen erscheinen, in den Büchern anzustreichen (aber natürlich nicht in solchen, die nicht uns gehören). Mrs. Eddy hatte sich das zur Gewohnheit gemacht, wie ihre eigene Bibliothek ersehen läßt. Niemand kann unser Lehrbuch getreulicher studieren als dessen Verfasserin es tat. Da sie wußte, daß es unter göttlicher Inspiration entstanden war, schätzte und bewunderte sie dessen Inhalt in völlig unpersönlicher Weise, gerade als ob jemand anders und nicht sie selber es geschrieben hätte.
Solche und ähnliche Übungen sind so reich an gewinnbringenden Resultaten, daß man sie autodidaktisch nennen kann, und was man durch eigenes Studium erreicht hat, ist meist am wertvollsten. Es weckt das Verlangen nach weiteren Kenntnissen derselben Art und überzeugt uns, daß der ganze Gedankenreichtum der Verfasserin zu unserer Verfügung steht. Man sagt oft, die Christliche Wissenschaft sei die Religion des Fortschritts. Ebenso wahr ist es, daß Fortschritt in der Erkenntnis der Wahrheit unbegrenzt ist. Niemals können wir es rechtfertigen, wenn wir mit unserem Wachstum an Erkenntnis oder mit unseren Demonstrationen zufrieden sind. Wissenschaftlich gesprochen, ist die Wahrheit an sich nicht fortschrittlich. Sie bleibt immer am Endziel der Vollkommenheit, und es fehlt ihr an nichts; aber unsere Erkenntnis der Wahrheit bedarf beständig und ununterbrochen der Zunahme und Entwicklung.
Gehemmtes Wachstum in der Christlichen Wissenschaft mag durch eine ungünstige Umgebung veranlaßt worden sein; gewöhnlich aber hat es darin seinen Grund, daß der Schüler geistig nicht mit derselben Hingabe und Selbstlosigkeit arbeitet, die ihm seine ersten Erfahrungen so eindrucksvoll machte. Wer damit zufrieden ist, auf seine besten Demonstrationen zurückzublicken und sie immer wieder zu erzählen, ohne mit allen Kräften danach zu trachten, andere der gleichen Art zu bewirken, sollte nicht vergessen, daß es für den Eilzug des Fortschritts keine Zwischenstationen gibt, wo man aussteigen und nach Belieben sich aufhalten könnte, ehe man seine Reise fortsetzt. Er vergesse nicht, daß die wertvollen Erfahrungen seiner Anfangszeit in der Christlichen Wissenschaft sich noch oft wiederholen werden, wenn er beharrlich den Buchstaben studiert, den Geist in sich aufnimmt und das, was er bereits gelernt hat, in die Tat umsetzt. Er kann den großen Schatz, den er zu Anfang unentgeltlich empfing, andauernd besitzen, wenn er den Preis zahlen will, und zwar nicht in Dollars und Cents, sondern in ernstem Studieren und gottgeweihter Tätigkeit.
