Was einen wahrhaft radikalen Standpunkt ausmacht, wie es durch die Christliche Wissenschaft verstanden wird, ist von Interesse für die ganze Welt. Allem Scheinbaren liegt die wahre Idee zu Grunde. Ohne eine diesbezügliche Wahrheit könnte nicht einmal ein ernstliches Verlangen nach Fortschritt erscheinen. Dadurch, daß die Christliche Wissenschaft diese Wahrheit zeigt, in allen Erfahrungen und unendlich anwendbar, wird sie die Erfüllung jedes richtigen Verlangens beweisen. Ein jeder, der sich aufrichtig an sie wendet um Hilfe, wird sich gewahr werden, daß er, nichts verlierend, seine volle Zufriedenheit finden wird, wie man es nicht für möglich gehalten hätte.
Auf Seite 452 von Wissenschaft und Gesundheit erklärt Mrs. Eddy: „Das Recht ist radikal.“ Leider ist die Tatsache, daß nur das Rechte wahrhaft radikal ist, in allen Zeiten übersehen worden von denen, die sich mit Radikalismus begnügten. Die Bedeutung der Nachsilbe „ismus“ ist wichtig. Lowell sprach davon als „die Klasse unerprobter sozialer Theorien, welche mit dem Namen Ismus bezeichnet werden.“ Bei dieser Anwendung wird der Begriff natürlich verkleinert. Auf Seite 28 von „Retrospection and Introspection“ sagt Mrs. Eddy ausdrücklich: „Ich glaube an kein Ismus.“ Der Unterschied zwischen Radikalismus und wahrhaft radikalem Verständnis ist daher gleich dem Unterschied zwischen der Nachahmung und dem Echten.
Weil es ein armer Notbehelf ist, auf die Voraussetzung der Materie gegründet, wird der Radikalismus von gestern der Konservatismus von heute. Es tönt zahm in diesen Tagen des Sozialismus, Kommunismus und Bolschevismus von Liberalismus oder Progressivmus zu sprechen. Doch, wie uns die Christliche Wissenschaft deutlich zeigt, sind die scheinbar am weitesten auseinandergehenden Kreise, solcher extremen Formen nur Schattenbilder des Nichts. Eine und alle dieser Stufen beruhen auf der falschen Voraussetzung, daß das sogenannte sterbliche materielle Leben die Wirklichkeit sei. Sie alle müssen einmal der ewigen Richtigkeit des wahren Lebens, welches das eine göttliche Bewußtsein mit seiner unendlich lebendigen Tätigkeit ist, Platz machen.
Das wahrhaft Radikale ist nie zerstörend. Ja, die Natur des Guten ist aufbauend entfaltende Tätigkeit, ohne ein Element der Zerstörung. Weil das geistige Bewußtsein beweisbar existiert als Ursache alles wahren, bewußten Lebens, getrennt vom materiellen Sinnenzeugnis, so kann es unmöglich eine Nichtexistenz enthalten noch Nichtbestehendes hervorbringen. Das Gute des Lebens ist daher die Unzerstörbarkeit des Lebens. Es bleibt ewig unberührt von der Annahme des Bösen. Echt radikale oder richtige Tätigkeit erfüllt die volle Absicht des offenbar werdenden Prinzips. Sie ist unendlich mannigfaltig, energisch und frei, als der Ausdruck der göttlichen Intelligenz.
Da nur geistig bewußtes Leben beweisbar ist, muß es alles sein, was wirklich existiert. Die Annahmen der Sterblichkeit, mit allen scheinbaren Rückwirkungen, Übertretungen, Übermäßigkeiten und Schreckensherrschaft kann nur Illusion sein. Jedes rasende Verlangen nach Wohlsein in der Materie muß von der wesentlichen Wirklichkeit des göttlichen Gemütes und seiner Idee weichen. Mit diesem wahren, freudigen Gemüt ist unaufhörliche, unparteiische und ordnungsgemäße Entfaltung. Durch diese Erkenntnis kann ein jeder für sich selbt beweisen, daß jede scheinbare Ungleichheit von Gelegenheit verschwindet im Angesicht der kund gewordenen, unendlichen Intelligenz. Anstatt dem rückgängigen Streben zu einem widersinnigen, illusorischen Standpunkt krasser Materialität, muß individuelles Erringen des wahren Standpunktes sein, durch dessen unbegrenzte Intelligenz alle Tätigkeit ausgedrückt wird. Sollte jemand zu roh erscheinen, um sich für dieses Erringen begeistern zu können, muß er dennoch geduldig ermuntert werden, dies zu erproben. Der einzige Weg für jeden ist, sich selbst zu versichern, daß man seine Erlösung ausarbeitet.
An Stelle einer scheinbaren Anarchie, braucht man keine sterblich autokratische Herrschaft, sondern beständige Entschlossenheit, zu wissen, daß göttliche Intelligenz den wahren Menschen regiert, gegenteiligen Annahmen zum Trotz. Wahrhaft demokratische Regierung ist nicht bloß ein Bündnis von Sterblichen, die sich gegenseitig ihre Ansichten aufdrängen; sondern sie besteht darin, daß sich alle leidenschaftslos und freudig an das Prinzip wenden. Sie verlangt beständiges Ersetzen materieller Begriffe durch das, was das göttliche Gemüt als wahr und beständig erkennt. Erkenntnis dessen, was göttliche Intelligenz und Tätigkeit ist, beruhigt den Lärm alter und neuer Vorurteile. In anderen Worten, aller scheinbare Materialismus muß durch das Verstandnis des Geistes geheilt werden.
Heilung bedeutet die Erfahrung geistiger Gesundheit. Die Vollständigkeit des einen unendlichen Lebens ist gänzlich getrennt von irdischen Mitteln und Wegen. Man sieht die schlimmsten Erscheinungen menschlicher Methoden, Unehrlichkeit, Haß und Zwist, in seiner eigenen täglichen Tätigkeit verschwinden, in dem Maße als man erkennt, daß der wirkliche Mensch jetzt und hier das göttliche Gemüt ausdrückt. Durch die Erkenntnis, daß das harmonische, kraftvoll geoffenbarte Gemüt, alles ist was ist, verschwindet die Annahme, daß man in einem materiellen Körper, mit all dessen Gebrechen, Schmerzen und Vergnügen lebe. Unbegrenztes und unzerstörbares Leben ersetzt Begrenzungen. Unberührt von irgendwelchem Aufruhr, erfreut man sich, daß man nur durch die eine immer energische Intelligenz angeregt werden kann. Man lernt sich tatsächlich der lebendigen Kraft des Geistes zu erfreuen, ungeachtet dessen, was zu sein scheint. Man beweist beharrlich, was man weiß.
Dies ist daher der wahrhaft radikale Standpunkt. Vor beinahe hundert Jahren schrieb Carlyle, der dazumal als radikal betrachtet wurde, in seinem „Zeichen der Zeit,“ die einzige solide Reformation sei, „was jeder anfängt und an sich selbst vervollkommt.“ Da dies tatsächlich Weisheit war dazumal, so muß es auch jetzt Weisheit sein, ebenso radikal und richtig als es je gewesen ist. Ewiger Friede kommt nicht durch das Anhören sterblicher Meinungen, Theorien und Ismusse, sondern durch freudiges Vertrauen in Gottes unwiderstehliche Güte. Wenn man dessen sicher ist, richtet man richtig. Schon achtzehn Jahrhunderte vor Carlyle hat Jesus Christus eine seiner Aussagen, die wie gewöhnlich voll überzeugender Kraft war, mit folgenden Worten beendet: „Ihr Heuchler! die Gestalt der Erde und des Himmels könnt ihr prüfen; wie prüfet ihr aber diese Zeit nicht? Warum richtet ihr aber nicht von euch selber, was recht ist?“
Auch Mrs. Eddy hat in einem Artikel in „Miscellaneous Writings“ (SS. 226—228) die Sicherheit individueller Richtigkeit, von sterblichen Einflüssen und Leidenschaften unberührt, beschrieben. Am Schlusse desselben schreibt sie: „Um ein großer Mann oder eine große Frau zu sein, um einen Namen zu haben, dessen Duft die Welt mit Wohlgeruch erfüllt, muß man mit Geduld die Schläge von Neid und Bosheit ertragen können, während man sich bestrebt, diese armen Naturen für ein höheres Leben zu befähigen. Mit mitleidvollem Auge sollten wir den momentanen Erfolg aller Schlechtigkeit, wahnsinnigen Ehrgeizes und niedriger Rachsucht betrachten. Dies wird uns auch befähigen, zu einer freundlichen, wahren, gerechten, gewissenstreuen und untadelhaften Person zu sehen, als einzig brauchbarer Stoff aus dem eine Existenz gewoben werden kann, geschickt für Erde und Himmel.“